Zum Tag des Alters Luzern
Zum Tag des Alters
vor dem Forum Luzern 60+
Stadt Luzern, 1. Oktober 2025
Dies ist mein erster Auftritt zum Alter. Ich habe das Thema bisher verdrängt, was seine Geschichte hat.
Kaum in den BR gewählt, wurde ich 50 Jahre, ein bestandenes Alter, wie ich glaubte. Die anderen Mitglieder des BR, alle älter, haben gratuliert. Arnold Koller schrieb: «Welche Jugend, welche Kraft!» Ich glaubte, er nehme mich ironisch auf die Schippe. Heute weiss ich, welche echte Gefühle hinter dem Kompliment steckten.
Fünf Jahre später war ich Bundespräsident. Zum «UNO-Tag der älteren Menschen», leitete ich ein Radiointerview mit der 88-jährigen Schriftstellerin Laure Wyss. Sie war die Alte, ich der Junge.
Fünfzehn Jahre später der Rücktritt. Von einem Tag auf den anderen wurde ich mit alt BR angesprochen. Ein Schock. Liebevoll gemeinte Kommentare: «Jetzt sind Sie einer von uns, Rentner und müssen nicht mehr arbeiten.» Ständig wehrte ich mich. «Nein, ich will arbeiten.» «Nein, meine Frau freut sich gar nicht, dass ich ständig zuhause bin.» «Nein, ich will nicht auf eine Kreuzfahrt.»
Es folgten auch angenehme Erfahrungen: Mir fiel auf: Billeteure und Polizisten wurden immer jünger, hilfreicher und freundlicher. Junge Frauen boten mir im Tram ihren Platz an (ganz ohne vorwurfsvollen me-too-Blick). Und im Kino erhalte ich jetzt die AHV-Reduktion, ohne nach meinem Alter zu fragen.
Dann aber ein etwas anderes Erlebnis anfangs Jahr: Ein Postautochauffeur im Unterengadin mustert mich, weiss nicht so recht, woher er mich kennt, und fragt dann: «Sind Sie nicht alt BR Rudolf Friedrich aus Winterthur?» Dieser ist vor 12 Jahren verstorben und wäre jetzt 101 Jahre alt.
Ich realisierte: Jetzt gibt es kein weiteres Verdrängen mehr. Und so habe ichfür den heutigen Anlass zugesagt.
Neben persönlichen und privaten Erfahrungen gibt es aber auch solche
mit einer politischen Bedeutung:
Anzeichen von Altersdiskriminierungen im Alltag
- Medikamente Krankenkasse (2025)
In diesem Jahr, 2025, im allerengsten Familienkreis:
Die Krankenkasse verweigert die Kostenübernahme eines ärztlich verschriebenen Medikamentes gegen eine Herzkrankheit.
Begründung: «Die Lebenserwartung einer über 80-Jährigen ist zu gering, als dass sich Kostenübernahme rechtfertigt.»
Das war mehr als nur eine Kostenverweigerung, nicht nur ein finanzielles Problem, es verletzte Selbstwertgefühle und die persönliche Würde.
Nach der Rückfrage: «Setzen Sie die Bezahlung an die Jüngeren, denen Sie das Medikament jetzt bezahlen, ab, wenn diese das 80. Altersjahr erreichen, weil es sich ab dann nicht mehr rechtfertigt?» erreichten wir einen Kompromiss: Es wird „vorläufig auf Probe hin“ bezahlt. (Wir warten nun, in welchem Jahr die Probe abläuft.)
Ein zweites Erlebnis in diesem Jahr:
- Mobilitätsstudie ETH (2025)
Am 25. April dieses Jahres erhielt ich an meine Privatadresse einen Fragebogen der ETH zu einer umfassenden Verkehrsstudie über «Mobilität und Erreichbarkeit 2025 in der Stadt Zürich». Der Fragebogen begann: «Wir laden Sie ein, an einer wichtigen Studie teilzunehmen, die das Mobilitätsverhalten der Zürcher Bevölkerung untersucht….Besonders interessiert uns, wie Sie Ihre Mobilität in der Stadt Zürich erleben…Wir werden Sie in einem Jahr erneut kontaktieren, um Entwicklungen und Veränderungen nachzuvollziehen.“ Es geht also um eine langfristige und wichtige Studie. Sie weckte mein Interesse als ehemaliger Verkehrsminister und als Urheber der via sicura (dem Programm zu Verminderung von Verkehrstoten und Schwerverletzten) und ich machte mich ans Ausfüllen. Da las ich als Erstes: „Um an der Umfrage teilzunehmen, müssen Sie zwischen 18 und 75 Jahre alt sein.“
Ich habe nachgefragt. Die Studienleiterin beschied mir schriftlich: «Der Schwerpunkt dieses Fragebogens liegt… in der Fahrradinfrastruktur. Unsere Stichprobe umfasst Personen, die möglicherweise Fahrrad fahren. Leider fahren in der Schweiz Personen über 75 Jahren eher wenig Fahrrad.»
Keine sehr wissenschaftliche Vorwegnahme eines vermuteten Sachverhaltes, denn, man hätte in der Studie fragen können, ob ab 75 nicht mehr Velo gefahren wird, denn nach vielen anderen wird mit erheblichem Aufwand auch gefragt. Auch interessant wäre, was ältere Menschen dazu meinen, wie in der Stadt Zürich Velo gefahren wird (auf dem Trottoir). Abgesehen davonlenkt die Ausrede davon ab, dass im Fragebogen ausdrücklich auch nach Benutzung von Auto, Tram und E Scooters gefragt wird, nur eben unter Ausschluss der über 75-Jährigen.
Da wird nun also von der ETH Zürich eine «wissenschaftliche Studie» über städtische Mobilität verfasst und die ganze Problematik älterer Verkehrsteilnehmer ausgeblendet.
Aus meiner früheren Arbeit weiss ich: Das Mobilitätsverhalten der über 75 -jährigen ist für den öV und für die Verkehrssicherheit von entscheidender Bedeutung: Rollatoren in Tram und Bus, Wartezeiten bei den Haltestellen, Sicherheit bei Notstopps des Busses, Länge der Grünphase für Fussgänger an der Ampel und, vor allem
der Führerausweis im Alter
Wie soll das geregelt werden? Via sicura wollte jugendliche Raser erfassen, aber auch Alte, die ihr Fahrzeug nicht mehr beherrschen. Wie kann man das gesetzgeberisch gerecht lösen?
Jugendliche Raser als auch Aussetzer von Alten führen zu einer Problematik in der Gesetzgebung: Muss man eine schematische oder kann man eine individuelle Lösung finden?
Stichwort Altersguillotine. Um schematische Lösungen kommt Gesetzgeber nicht herum (Bauvorschriften, Geschwindigkeitsbeschränkungen, Raumplanung). Sie sind aber immer ungerecht, weil sie nicht auf den Einzelfall Rücksicht nehmen.
Um beim Fahrausweis zu bleiben: Es gibt das radikale Schema: Ab dem Alter x wird kein Ausweis mehr erstellt (Das ist in einzelnen Ländern, in einigen kann man ab 70 kein Auto mehr mieten). In via sicura wählten wir eine Differenzierung: Ab einem gewissem Alter ist eine medizinische Kontrolle nötig. Ab welchem Alter? Auch ist wieder ein schematischer Entscheid. Anfänglich galt Alter 70, doch der Ständerat erhöhte später auf 72, weil ein ige Ältere Ständeräte auf ihre Verkehrstauglichkeit hinwiesen. Die Zahl wird wohl auch weiterhin schwanken. Es kommt auf das Durchschnittsalter der SR an.
Wer kontrolliert? Die Hausärztin oder der Amtsarzt? Hausarzt wird eher akzeptiert. Wenn er einen Verzicht empfiehlt, wird das meist akzeptiert. Beim Amtsarzt folgen meist Rekurse, also entschieden wir uns für die Hausärztin.
Auch bei den Versicherungsprämien stellt sich die Frage, ob sie schematisch oder individuell erhoben werden können. Das Bonussystem ist individuell, die generell höheren Prämien für Junglenker sind schematisch und daher für einige auch ungerecht.
Altersguillotinen bei Berufsausübung
In Neuchâtel wurde einem 80-jährigen Arzt die Praxis Bewilligung verweigert, ausschliesslich, weil er 80 wurde, also nicht wegen mangelhafter Berufsausübung. Das Bundesgericht hat das aufgehoben: Allein nach dem Alter dürfe das nicht beurteilt werden. (NZZ, 31. Mai 2025)
Die meistdiskutierte Altersguillotine: das Pensionsalter
Auf den Klassiker will ich an dieser Stelle nicht näher eingehen. Nur so viel: ich verstehe die absolute und kategorische Rückweisung auch nur einer Diskussion über eine Erhöhung des Rentenalters nicht und bin anderer Meinung als die SP. Auch verstehe ich nicht, warum nicht Zwischenlösungen angedacht werden, je nach Bedürfnis und dem Willen von Betroffenen. Selbständige haben das Privileg auf Wahl, ob sie noch arbeiten wollen oder nicht. Warum sollen das nicht auch Arbeitnehmern zustehen?
Eine politische Diskriminierung, die Einschränkung des Stimmrechts
Im Juli 2016 brachte SP-Regierungsrätin und Justizdirektorin des Kantons Zürich öffentlich den Vorschlag ein, das Stimmgewicht nach Alter zu staffeln. Konkret schlug sie auf Facebook vor: 8–40-Jährige: 2 Stimmen, 40–65-Jährige: 1,5 Stimmen, über 65-Jährige: 1 Stimme (also die Hälfte eines 18-Jährigen).
Die Begründung: Jüngere müssten länger mit politischen Entscheidungen leben und seien zunehmend in der Minderheit. Das war aber keine Gesetzesvorlage, sondern, es sei dies ein Denkanstoss.
Ich denke, dieser Denkanstoss ist ein Denkfehler. Die Idee ist unvereinbar mit einer Demokratie, unvereinbar mit dem Prinzip «Ein Mensch - eine Stimme».
Zudem unterstellt der Gedanke, in unserer Demokratie würden alle nur gerade nach ihren eigenen Interessen abstimmen, ohne das Allgemeinwohl einzubeziehen. Ihnen wird unterschoben, sie dächten wie Madame de Pompadour: «Après nous le déluge».
Ältere sind Eltern und Grosseltern. Sie sorgen sich sehr wohl um die Zukunft der nächsten Generationen. Unsere direkte Demokratie hat immer wieder bewiesen, dass eben nicht nur im unmittelbaren Eigeninteresse abgestimmt wird. Und zwar alle, nicht nur die Älteren.
- Alt oder Älter? Politische Korrektheit im Ausdruck
Ein Anzeichen von unterschwelliger Diskriminierung ist die krampfhafte Bemühung um einen politisch korrekten Ausdruck für eine Personengruppe. «Alte, dann Ältere, dann Senioren, dann Pensionierte, (vielleicht auch Silberfüchse, Graue Panter?).
Ein stets wechselnder Ausdruck macht misstrauisch. Er ist ein Indiz dafür, dass eine Gruppe herablassend bewertet wird. Diese Herablassung wird dann bekämpft mit moralischen Kampagnen zugunsten einer neuen Bezeichnung. Man will die Betroffenen von einem ungerechten Stigma befreien.
Es gibt Analogien, zum Beispiel zur Bezeichnung von Krankheiten: Da wechselten die Ausdrücke von Mongoloid über Downsyndrom zu Trisomie 21etc. Von Idiotie (einst ein medizinischer Ausdruck), über Schwachsinn, Blödsinn und Geistesschwäche gelangten wir zur geistigen (oder kognitiven) Behinderung. Auch in der Benennung von Institutionen: Vor 150 Jahren wurde diskutiert, ob ein Heim Kinderasyl oder Kinderbewahranstalt heissen müsse. Parallel gab es Auseinandersetzungen darum, ob Armenhaus, Erziehungsanstalt oder Rettungshaus richtig sei.
Aber: so lange keine inhaltliche Anerkennung da ist, so lange werden die Namen immer wieder von Neuem ausgetauscht werden müssen. Es kommt auf die innere Einstellung an und die ändert mit einem Wort noch nicht.
Ich könnte noch heute voller Sympathie und nicht herablassend über einen Mongoloiden statt von Trisomie 21 reden. Abgesehen davon, dass manche Änderung gar nicht als Verbesserung einleuchtet: Warum ist geistig behindert aufgeklärter als geistesschwach?
Moralischer Druck auf Wörter löst das Problem nicht und lenkt auch ab. Die 88-jährige Laure Wyss damals vor 25 Jahren am UNO Tag «der älteren Menschen»:
„Ich weigere mich, älter genannt zu werden; ich bin alt.» Das Büchlein über das Gespräch heisst darum «Protokoll einer Stunde über das Alter»
Laure Wyss wählte eine Vorwärtsstrategie.
Die Reduktion eines Menschen auf sein Alter
Es ist eine Diskriminierung, wenn Alte nur gerade auf eine einzige Eigenschaft reduziert werden, nämlich alt zu sein. Das Alter ist ein Teil ihrer Persönlichkeit, aber nicht der einzige, auch nicht der wichtigste.
Ähnlich ist es bei Behinderten: Sie haben eine Behinderung, sie sind blind, sie können nicht selbständig gehen, sie stottern). Aber in den übrigen Funktionen sind sie eben nicht behindert, sondern begabter: Ein Blinder hat einen besseren Tastsinn als ein Sehender. Ein Trisomist kann fröhlich lachen (es gab einen Bundesrat, der das nicht konnte – es war zu meiner Zeit). Daher wird der pauschale Ausdruck „behindert“ wird dem Individuum nicht gerecht.
So auch bei den Alten: Sie sind Menschen, die nicht mehr alles leisten können. Aber sie können anderes besser leisten als die jüngere Generation. Sie haben Erfahrung, sie können Jüngere beraten, Enkel betreuen, kranken Nachbarn helfen. Pro senectute organisiert Treuhandarbeiten und Steuererklärungen oder das Fahren von Tixi durch Ältere organisiert. Das erhöht den Selbstwert der Alten, die die Leistung erbringen. Sie können soziale Verantwortung wahrnehmen und das gibt ihrem Leben einen Sinn. Es stärkt auch die ganze Gesellschaft. Sie wird sozial und solidarisch gefestigt.
die Digitalisierung und das Alter
Digitalisierung ist nicht bloss eine neue Technologie, sie ist eine neue Epoche.
Sie prägt alle, vom Embryo bis zum Tod. Sie hat bereits gewaltige Wandlungen und Entwicklungen ermöglicht und wird das weiter tun, in der Kommunikation wie in der Medizin. Es ist auch der Digitalisierung zu verdanken, dass Ältere noch älterer werden. Ewiges Leben ist in Aussicht gestellt. Operationen, Blutanalysen, Überwachung von Herzschrittmachern.
Dieses Beispiel zeigt: Wie jede Technologie bringt sie auch Risiken für alle Menschen. Im letzten Schweizer Tatort vom Sonntag sahen wir düstere Aussichten: Hacker oder Herrscher aus digitalen Imperien können jederzeit ein Herzimplantat umfunktionieren….
Die Risiken der Digitalisierung manifestieren sich gegenüber einer älteren Generation deutlicher:
Die Geschwindigkeit der Digitalisierung
kann nicht auf demokratische Prozesse übertragen werden. Demokratie ist nicht Effizienz von Abläufen, sondern Einbezug Aller. Deswegen Suche nach Kompromissen und Ausgleich. Die rasche und rücksichtslose Umstellung auf Digitalisierung kann sich rächen. Viele Staaten, die auf eine rasche und flächendeckende Umsetzung von E-Government gesetzt haben, vermelden Rückschläge im Kontakt mit ihren Bürgerinnen und Bürgern: (Estland zum Beispiel). Die digitale Kommunikation mit Online-Formularen, digitaler Zahlungsverkehr, gleichzeitig abgeschaffte telefonische Kontaktmöglichkeiten, das Schliessen von Schaltern und Büros, ohne dass direkte Begegnungen von Mensch zu Mensch mehr möglich sind. Das alles führt nicht automatisch zu mehr Effizienz und es widerspricht dem Geist einer Demokratie. Da wächst Frustration und Widerstand. Das richtet sich dann gegen staatliche Strukturen.
Die Entwicklung ist mit der Würde des Menschen, einer Säule der Demokratie, unvereinbar. Zu ihr gehört das Anrecht auf ein persönliches Gespräch an einem Schalter oder am Telefon, um etwas erklärt zu bekommen oder auf alternative Lösungsvarianten hingewiesen zu werden.
Ältere sind vom digitalen Wandel vermehrt betroffen.
Beispiel Covid: ältere Menschen, also ausgerechnet die Risikopatienten wurden von Covid 19-Impfungen regelrecht ausgeschlossen. Der Zugang war nur online möglich, unübersichtlich, unnötig komplizierten Verfahren. Ohne fachtechnischen Sukkurs keine Chance. Offline Bürger sind auch Bürger. Sie müssen auf Analogie zurückgreifen können:
Digitalisierung führt zu einem biopolaren Verhalten:
Ursache ist die Multiple choice, die das selbständige Denken ersetzt. Vorgedachte Antworten können angekreuzelt werden (bis hin in akademischen Prüfungen). Dritte oder differenzierte Lösungen können gar nicht geäussert werden.
Wer in diesen Schemata aufgewachsen ist, kennt gar nichts Anderes und glaubt, all dieses Vorgedachte sei die einzige Wahrheit. Da dreht eine schon eine Generation im digitalen Hamsterrad und merkt gar nicht, dass sie ihren freien Willen mehr entfalten kann. Wer nicht so aufgewachsen ist, hat die nötige kritische Distanz und kann sich gegen die Vereinnahmung der Digitalisierung wehren. Die Älteren sind deswegen ein Seismograf für ein Erdbeben, welches sich durch Digitalisierung und KI abzeichnet und alle betreffen wird.
Das bedeutet eine Verpflichtung der älteren gegenüber der jüngeren Generation.
Sie kann dieser ein Leben in Freiheit und Eigenverantwortung aufzeigen,
eine Demokratie statt einer Technokratie. An dieser Hoffnung kann und muss sie mitarbeiten. Und das ist ein Privileg. Das Privileg des Alters.

