Über Rollenwechsel in der Politik
Wir treten auf, wir spielen, wir treten ab - Über Rollenwechsel in der Politik
Beitrag in der Vortragsreihe
«Trauer – Abschied – Neuorientierung»
Kirchgemeinde Petrus,
Bern, 1. April 2025
- Heute, am 1. April 2025, betritt ein neuer Bundesrat die Bühne der Bundespolitik. Für ihn beginnt ein neues Leben. Er übernimmt eine neue Rolle.
Ich erinnere mich, es war vor 30 Jahren:
Die Gratulationsreigen sind vorbei. Die Zelebrationen abgefeiert.
Du kommst allein durch die Gänge in dein neues Büro. Davor steht deine neue Sekretärin, die schon deinen Vorgänger betreute. Sie gibt mir erste Anweisungen, zum Beispiel, dass es nicht angehe, mich im Bundeshaus vegetarisch ernähren zu wollen.
Und also erfuhr ich, wer meine Rolle im Bundeshaus festlegt.
- Heute, am 1. April 2025, tritt eine Bundesrätin von der eidgenössischen Bühne ab, taumelt in die ihr bis anhin unbekannte Schwerelosigkeit einer orientierungslosen Ohnmacht.
Ich erinnere mich, es war vor 15 Jahren:
Immer und immer wurde ich im Tram, auf dem Markt angesprochen und erfuhr meine künftige Rolle: Zufrieden sein, das Leben geniessen, glücklich mit meiner Frau auf Reisen gehen.
Ich verabschiedete mich damals vor der Bundesversammlung mit den Worten: „Wir treten auf, wir spielen, wir treten ab.“ Es war die Anlehnung an ein altes byzantinisches Sprichwort:
„Die Welt ist eine Bühne, das Leben ein Auftritt.
Du kamst, du sahst, du trittst ab.“
Diese Gleichsetzung von Politik und Theater hat einige auch etwas befremdet, so Michael Hermann, der Politik nicht auf ein Theater reduzieren wollte.
Doch je länger die Verabschiedung zurückliegt, desto mehr bin ich davon überzeugt:
Politik und Theater sind zwei nahe Verwandte.
Erster Akt:
Wir treten auf – auf die Bretter, die die Welt bedeuten
Sowohl auf den Bühnen des Theaters wie auf denen der Politik wird in örtlich und zeitlich begrenztem Rahmen eine Meinung, eine Überzeugung oder ein Sachverhalt zum Ausdruck gebracht:
- Auf begrenztem Raum. Das ist eine Bühne, ein Rednerpult oder der enge Platz vor einem Fernsehprompter.
- In begrenzter Zeit. Das sind 2 Stunden im Theater, 10 Minuten im Nationalrat, 20 Sekunden im TV - Statement. Bei Cicero waren es noch 4 Stunden, Trumps state oft he Union vor einem Monat dauerte 99 Minuten.
Inhaltich wird auf beiden Bühnen verallgemeinert, zugespitzt, dramatisiert. Es wird mit Symbolen gearbeitet, es werden Rituale gepflegt, etwa die Nationalhymne gesungen oder eine Fahne aufgestellt.
Politik kommt nicht ohne Theater, nicht ohne Drama aus.
Es ist kein Zufall, dass Vaclav Havel, Lennart Meri, Wlodimir Selensky, Ronald Reagan zuvor Schauspieler waren. Die Töchter und Söhne der Bundesräte von Furgler und Felber oder von Willy Brandt sind Schauspielerinnen und Schauspieler. Und nicht wenige Politikerinnen und Politiker sind nach ihrem Beruf auf Bühnen von Show und Theater gelandet.
Wie das Theater die Rollen des Teufels, der Hexe und des Kasperlis kennt, gibt es in der Politik verschiedene Rollen:
- Jungtürken, die aufmüpfig sein sollen und vielleicht gar mal die Gesetzesgrenzen überschreiten dürfen, bei einer Demonstration oder einem frechen post in den social medias.
- Die Rolle von jungen Parlamentariern, welche die Verwaltung und Regierung scharfzüngig angreifen, es «denen in Bern oben» zeigen,
- die Rolle des milden Staatspräsidenten in Deutschland, Italien oder Österreich, der alle ausgleichend einbezieht. In der Schweiz ist man Präsidentin oder Präsident nur für ein Jahr und behält das Departement. Zur milden Weisheit finden deswegen nicht immer alle, vor allem nicht, wenn sie die Geschehnisse auf der Welt kommentieren.
- Auf den Bühnen der Politik spielen nicht nur Politikerinnen und Politiker im engeren Sinn (Parteipräsidentinnen, Parlamentarier und Bundestagsmitglieder), sondern alle, die Einfluss auf die Gesellschaft nehmen, also auch NGOs, Lobby, Wirtschaft, Beamtinnen, Beamte, Botschafterinnen, Journalistinnen („Verzeihen Sie diese Frage, aber ich muss das als Journalistin, das ist meine Rolle…“.
Zweiter Akt:
Wir spielen – wir spielen eine Rolle
Wir spielen eine der Rollen, die das Land zur Verfügung stellt.
Wer definiert diese Rolle?
Eine Rolle wird geprägt
- von der Institution selbst,
- von den Erwartungen des Publikums, der Öffentlichkeit, von den Medien, der eigenen Partei,
- ja, auch von den politischen Gegnern.
- Aber in erster Linie von demjenigen, der die Rolle besetzt. Er hat im Wahlkampf versprochen, wie er sie auszufüllen gedenke.
- Durch die Institution, die Verfassung, untermauert von Ritualen
- Das beginnt bei der Amtsübernahme:
- Am eindrücklichsten wohl die Papstwahl:
- Nach dem Konklave und dem weissen Rauch wird der Neue in die Kammer der Tränen geführt, nimmt dort Abschied von seinem alten Leben, wählt einen neuen Namen und ist von nun an unfehlbar, ist heilig und rückt näher zu Gott.
- Ebenfalls eindrücklich die Monarchie:
- Die Inthronisation von König Charles III, wurde von SRF in voller Länge übertragen.
- Etwas bescheidener sind die Rituale in der direkten Demokratie, zum Beispiel die Wahl Mitglied Bundesrat:
- Nach dem Resultat der Wahl folgt die Erklärung auf Annahme der Wahl, verbunden mit dem Dank an die Familie, die Gemeinde und die Partei, gefolgt vom Schwur oder Gelübde, anschliessend Begrüssung durch Gesamt BR,.
- Der oder die neue wechselt nicht gerade seinen Namen, wie der Papst es nach er Wahl tut, aber immerhin: Er wird jetzt in der Verwaltung nur noch mit Herr Bundesrat und Frau Bundesrätin angesprochen, vom Sicherheitsdienst abgeschottet, muss von seiner vorherigen Unbeschwertheit Abschied nehmen. In der Bundesverwaltung gibt es dafür sogar eine Art Zeremonienmeister, das so genannte Protokoll mit speziell ausgebildetem diplomatischem Personal.
- Das gibt es weltweit: Der tschechische Staatspräsident Vaclav Havel hat sich in einem Interview einmal bitter über die protokollarische Strenge beklagt, die ihn dazu zwinge, “unnormal zu leben”. Er halte das Protokoll nur deshalb aus, weil er vom Internat, vom Militär und vom Gefängnis her “trainiert” sei. (Ich selber brachte keine dieser Voraussetzungen mit in mein Amt.)
- Die Fixierung auf eine Rolle setzt sich fort im politischen Alltag:
- Das Departement wird zugeteilt! Der Kandidat muss also bereit sei, eine Rolle zu übernehmen.
- Im Bundesrat und in Regierungsrat verkehren die Mitglieder per Sie, sagen sich also „Herr Finanzminister“ etc. Unterstreicht die Rolle: Finanzminister muss sparen.
- In der Kaffeepause keine Sitzordnung und die Regierungsmitglieder verkehren per Du.
Dort werden dann auch die Kompromisse gefunden.
- Das gilt auch international:
- Der rumänische Außenminister Andrei Plesu schildert in seinen Erfahrungen über Sitzungen und anschließenden Lunchs:
„Es ging mit Lachs und Milosevic los, es folgten Roastbeef und die NATO – Strategie, und beim Apfelstrudel wurden Embargos und Sanktionen vorgeschlagen. Solche Beschlüsse werden auf der Rückseite der Menükarte festgehalten.»
- Das zeigt: Wenn aus der Schablone der zugeteilten Funktion getreten wird, ist der Kompromiss möglich. Erst dann kann ein gesellschaftlicher Wandel vollzogen werden.
- Meinung ändern: Erst wenn es möglich ist, die eigene Meinung auch zu ändern, kann eine Demokratie leben und sich entwickeln.
- Die öffentliche Erwartung oder das Publikum
- Der Politiker repräsentiert seine Wähler. Repräsentieren heisst wörtlich vergegenwärtigen: Der oder die Politikerin verleiht den Wählern stellvertretend eine eigene Gegenwart in Regierung oder Parlament. Diese wollen sich selbst in ihm sehen, ihre Worte von ihr hören. Nach öffentlichen Reaktionen zu Unglücksfällen (Katastrophenjahr 2001) hörte ich oft: «Sie sagten, was ich fühle, ab er nicht ausdrücken kann.» die Wähler wollen «Eine von uns!“ Also: bloss kein Bühnendeutsch im Parlament, sondern dem Stammtisch huldigend, kehlig und breit!
- Die Erwartungen an einen Bundesrat bestehen auch darin, die übernommene Rolle ernst zu nehmen. Keine Selbstironie! Repräsentanz durchziehen: immer an einen Unfallort hingehen, um Empathie zu untermauern.
Alle diese Rollenerwartungen von aussen beeinflussen die politischen Rollenträger.
- Der Rollenträger will seine Rolle selbst definieren
Zwar will er die vorgegebene Rolle mit eigenen Vorstellungen prägen. Doch er ist beeinflusst. Daraus ergibt sich eine
- Wechselwirkung
- Sie will, dass sie kann, was sie muss. Er will, dass er kann, was er muss.
- Es ist dies auch der Grund, dass viele Hoffnungen enttäuscht werden, weil der Spieler in seine neue Rolle hineinwächst und von der neuen Rolle geprägt wird und sich von der vorherigen verabschiedet.
- Jean Anouilh: Becket oder die Ehre Gottes: Heinrich II., König von England, setzt seinen Freund und Zechkumpanen Thomas Becket als Erzbischof ein. Er hofft, so Einfluss auf die Kirche nehmen zu können. Doch Becket wächst in seine neue Rolle hinein und verpflichtet sich seiner Aufgabe als Gottesdiener, überwirft sich mit dem König. Dieser lässt ihn in der Kathedrale von Canterbury ermorden.
- Joschka Fischer: Als Grüner mit einem Flor Pazifismus umhaucht, wird Aussenminister und setzt sich für ein Eingreifen Deutschlands im Balkankrieg ein, um nicht mitschuldig am dortigen Morden zu werden.
- Otto Schily: Pflichtverteidiger von Terroristen, wird Innenminister und setzt sich mit Vehemenz für Recht und Ordnung gegen terroristische Angriffe auf den Staat ein. Viele haben den Rollenwechsel nicht wahrhaben., vor allem seine Gegner nicht: Reaktionen im Europa Institut: Wollten ihn nur in der Rolle des Strafverteidigers von Terroristen sahen.
- Ich selber mit ähnlichen Erfahrungen: Erkannt nach dem Zollikermord dass ich nicht mehr Strafverteidiger eines Täters bin, sondern Anwalt der Öffentlichkeit, die es zu schützen gilt: Radikaler Umbau des Strafvollzuges, neue Gefängnisbauten.
- EU-Umweltminister: Alle, unabhängig von der Parteizugehörigkeit, identifizierten sich mit ihrer Aufgabe.
- Beispiele: Metzler und ich bei prepaid handys, vom Departement geprägt nicht von Parteizugehörigkeit, Leuthard und KKW: zuerst als Wirtschaftsministerin gegen Ausstieg, dann als Energieministerin dafür. Levrat als Gewerkschafter gegen Schliessung von Poststellen, als VRP dafür.
- Rollenwechsel in der Politik
Der Kandidat sucht die neue Rolle und will sie prägen. Kann er das? Das spielt bei der Wahl eine entscheidende Frage:
- Kann der Kandidat die neue, die andere Verantwortung übernehmen? Beispiele: Datenschutz / Polizei (Adrian Lobsiger), Journalist, der jetzt BR berät? Vom Anwalt, Staatsanwalt zum Richter? Oppositioneller Parlamentarier? Kandidat Markus Ritter als Lobbyist der Bauern: kann er diese Rolle ablegen? Ein SP-Präsident in den BR? Früher undenkbar, im Gegensatz zur CVP.
- Oft wird der Rollenwechsel gar nicht zugelassen: Von der Partei nicht. Sie will dass ihr Vertreter ein strammer Parteisoldat bleibt. Von den Gegnern nicht: Sie möchten ihre Lieblingsfeinde weiterhin pflegen. (Zeigt sich im Asylwesen). Von den Medien nicht: Mitglieder des BR werden stets mit Parteizugehörigkeit in Klammern erwähnt, ja sogar Bundesrichter.
- Einige Rollenwechsel verbieten sich tatsächlich systemisch: Vom CEO zum VRP ist in der Wirtschaft, zunehmend umstritten (NZZ 15. Januar 2025). Der Bundesrat war gegen die Wahl eines CEO von einem Bundesbetrieb zu dessen VRP. In einem anderen Bundesbetrieb ja, nicht aber im selben, den er vorher operativ geleitet hat.
- Ob ein Kandidat fähig sei, die Rolle zu wechseln, sind stehen bei einer Wahl in den BR im Vordergrund: Ist er zu Empathie fähig? Hat er soziale Kompetenzen? Kann er sich von seinem Ego lösen? Kann er einen Horizont erlangen, der über seiner Nasenspitze steht? Es sind dies die wichtigsten der Wahlkriterien.
- Wie berechtigt sie sind, zeigen die jetzigen Entwicklungen in den USA. Da sind ein Präsident, ein Außenminister, ein Verteidigungsminister und ein Techmilliardär ganz offensichtlich nicht zu einem Rollenwechsel fähig und auch nicht willens dazu. Das begann mit der Inaugurationsrede, wo die Tradition verlassen wurde, dem politischen Gegner die Hand zu reichen (Nicht wie seit mehr als zwei Jahrhunderten zuvor: „Ich will der Präsident aller Amerikanerinnen und Amerikaner sein.“ Das setzt sich fort in der rüpelhaften Behandlung eines Staatspräsidenten, der seit Jahren für westliche Werte im Krieg steht oder in der Beschimpfung von Europäern. Da sind Minister einer Weltmacht in der Rolle von pubertären Lümmeln verblieben. Sie verharren im Ich (America first), im eigenen Wort, nicht fähig, sich der Ant-wort zu stellen, schon gar nicht der dritten Dimension, nämlich der Ver-ant-wortung).
Ja, dieser Ver- Ant – Wortung ist schwierig.
Auf die Länge kann es schwierig werden, die erwartete Rolle zu erfüllen, vor allem auch die, welche das Kollegialitätsprinzip vorgibt: Hinter Entscheidungen stehen, die man selber bekämpft hat. Bei jeder Äusserung daran denken, wie sie falsch interpretiert werden könnte (mediale Verzerrung und Zuspitzung).
Das raubt jede Spontaneität und kann mit der Zeit zum Rücktritt führen, damit die Rolle aufgegeben werden kann Deswegen ist in der CH der freiwillige Rücktritt aus der Kollegialregierung zur Regel geworden.
Der dritte Akt:
Wir treten ab
Nein, ich komme jetzt nicht zu Trauer und Tränen, die Gegenstand der bisherigen Veranstaltungsreihe waren. Zwar gab es Tränen beim letzten Rücktritt, wir sahen sie live, aber es waren weniger Tränen der Trauer als solche der Rührung. Doch beim Rückzug schwinden die Parallelen zwischen Theater und Politik. Stars, die schon fast zu Heiligen wurden, verstecken sich nach Erlöschen der Scheinwerfer hinter dunklen Sonnenbrillen, wie Greta Garbo, oder dunklen Vorhängen, wie Marlene Dietrich. Oder sie flüchten sich in Verbitterung wie Brigitte Bardot. Aber bei Rücktritt aus dem Bundesrat gibt es selten Trauer. Im Gegenteil. Toni Brunner SVP bei meinem Rücktritt: „Ein Freudentag für die Schweiz!“
Auch für den Zurücktretenden ist es keine Trauer. Er will es so. Und selbst bei der Abwahl: Gegenüber Arbeitnehmern bei Betriebsschliessungen, ist die Eventualität klar voraussehbar und kalkulierbar.
Was kommt nachher?
Auch da gibt es Rollenerwartungen der Öffentlichkeit:
- Zurückhaltung mit Einmischungen in das im politischen Tagesgeschäft.
- In einen VR? In einer Baufirma? Kommt auf Parteizugehörigkeit an.
- Ebenfalls toleriert: In sozialen Institutionen mitarbeiten: pro Juventute, pro senectute, pro Helvetia, pro patria.
Einmal aus dem Hamsterrad (um nicht zu sagen Hamsterrolle) des Politalltages ausgetreten, ist es gar nicht so leicht, eine neue Rolle zu finden.
Die helvetische Rollenerwartung bleibt immerdar: Servir et disparaître. Disparaître ist gar nicht so einfach. Zuerst muss die neue neue Rolle gefunden werden. Was dabei hilft ist zum Beispiel eine unvermittelte Anfrage zu einem Auftritt mit einem völlig unerwarteten Thema zu erhalten, zum Beispiel dem Thema: „Trauer – Abschied Neuorientierung“. Sie hat mich bei meiner immer noch nicht erfolgreichen Suche geholfen.
Ich danke Ihnen für die Orientierungshilfe.