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Peter von Matt, literarischer Citoyen


Peter von Matt, der literarische Citoyen

Gedenkanlass für Peter von Matt im Schauspielhaus Zürich 14. 9. 2025

 

Peter von Matt war ein Citoyen, ein Bürger, der im Geist der Aufklärung am Gemeinwesen teilnimmt, der die Civitas mitgestaltet und sein Kapital einbringt. 

Sein Kapital war die Literatur. 

In Büchern und Texten, in Reden und öffentlichen Gesprächen prägte er den Diskurs unseres Landes mit. 

Nicht belehrend, sondern Hilfe leistend all denen, 

die ihn und sein Wissen suchten.

 

Und unsern kranken Nachbarn auch

 

In meinem ersten Präsidialjahr wollte ich in der Ansprache zum Tag der Kranken das Lied «Der Mond ist aufgegangen» zum Ausganspunkt nehmen, das mir seit Kindesalter im Kopf war. 

 

«So legt euch denn Ihr Brüder in Gottes Namen nieder……..

und lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch.»  

 

Schon als Kind fragte ich mich, wer denn dieser kranke Nachbar sei. 

Auch das mit den Brüdern war mir nicht so klar. 

Ich fragte Peter von Matt, der mir innert einem einzigen Tag zu Hilfe kam. 

 

So kam es, dass die Ansprache in Radio und Fernsehen folgende Passage enthielt: 

 

«Der Mond ist aufgegangen» ist ein Kirchenlied aber auch ein politisches Gedicht.

Matthias Claudius schrieb es in der Zeit der Aufklärung, als sich die Demokratien durchsetzen gegen herrschaftliche Systeme mit Königen und Untertanen. 

«Die Brüder» bedeuten fraternité, zusammen mit égalité und solidarité zentrale Werte jener Epoche, welche Demokratie nicht nur als eine Staatsform begriff, sondern als ein Ideal, wie wir Menschen Verantwortung füreinander übernehmen sollen. 

Die Aufgaben und Pflichten werden von allen wahrgenommen und nicht einfach der Obrigkeit überlassen. 

Das betrifft auch unser Verhältnis zu Kranken.»

 

Da sonnte sich ein Bundespräsident in der allgemeinen Bewunderung für sein kluge Auslegung eines Gedichtes. 

Die Quellenangabe kann erst heute erfolgen. Das Schweizer Fernsehen liess sie damals gar nicht zu. Eine Präsidialansprache muss sich der Zeit für die folgende Werbung unterordnen. 

 

Der Bundesrat am Grab von Elias Canetti

 

Ebenfalls im Jahre 2001 versammelte sich der gesamte Bundesrat während seines traditionellen Schulreislis frühmorgens, noch etwas verschlafen auf dem Friedhof Fluntern. 

Als Überraschung hielt Peter von Matt an den Gräbern von James Joyce und Elias Canetti vor uns Sieben eine kurze Rede über Elias Canetti. 

Sie endete:

«Wein ist immer beides. Harte Arbeit und rauschhafte Begeisterung. Beides ist auch die Voraussetzung der Kunst. 

Fleiss allein bringt Schwielen, 

Rausch allein bringt Kopfweh, 

beides zusammen ergibt das Kunstwerk und also auch die inspirierende Politik. Wenn Ihnen heute der Stadtrat von Zürich Zürcher Wein aufstellt, trinken Sie ihn mit Nachsicht. Er ist, vorsichtig gesagt, von gedämpftem Feuer. Aber er ist ein starkes Zeichen, so wie er einst über die Pässe kam und blieb und weiter zog an den Rhein und die Mosel und überall Räume der Kultur eröffnete, Räume des strengen Denkens, des freien Spiels und der disziplinierten Politik. So ziehen immer wieder grosse Geister, 

wie Canetti und Joyce durch diese Stadt, durch dieses Land. 

Sie machen hier Station, bleiben oder ziehen weiter. 

Sie gehören uns nicht und gehören doch zu uns. Sie verwandeln die Stadt und das ganze Land in einem dynamischen Raum, in eine Heimat mit offenen Fenstern und kräftigem Durchzug.»

 

Ich weiss noch heute nicht, ob der «kräftige Durchzug» vorbereitet oder improvisiert war, weil nämlich gegen Schluss der Rede ein heftiger Windstoss aufkam und Peter das Manuskript aus den Händen auf das Grab von Canetti wehte.  

 

Im dritten Text, den ich zitieren will, war aber nichts improvisiert: 

 

Das Land, das nur rückwärts schaut

 

1998 wurde «200 Jahre moderne Schweiz» gefeiert. 

 Gedacht wurde der Geburtsstunde der liberalen Bundesverfassung von 1848 mit Gewaltenteilung, individueller Freiheit und föderalen Strukturen. 

 Das Jubiläum war sehr umstritten. Es stand die Volksabstimmung über die ersten sieben bilateralen Verträge mit der EU bevor. Sie wurden heftig bekämpft, von einer Partei. Diese sah die Schlacht von Sempach,1386, als die wesentliche Geburtsstunde der Schweiz und nutzte dies zur Polemik gegen die Jubiläumsfeier und gegen die Verträge.  

Es herrschte eine gehässige Auseinandersetzung darüber, ob das eigentliche Gen der Schweiz eine mittelalterliche Schlacht oder die liberale Verfassung sei.  

Zum Festanlass in Aarau versammelten alle kantonalen Regierungen, alle kantonalen Parlamente, die eidgenössische Bundesversammlung mit dem vollzähligen Bundesrat. 

 Peter von Matt hielt die Festrede «Die Kunst der gerechten Erinnerung». 

Sie begann so:

«Es ist nicht überall ganz geheuer im Kanton Aargau. Noch immer kann es geschehen, dass einem in der Nacht, wenn man allein unterwegs ist, plötzlich ein Reiter begegnet. Der sitzt auf einem gewaltigen Ross, gestiefelt und gespornt, und nebenher läuft ein weisses Hündchen. 

Der Boden dröhnt. Die Sporen klirren, das Ross rast mit aufgerissenen Augen voran. 

Dem Reiter aber sitzt der Kopf verkehrt auf dem Leib, und seine Augen starren rückwärts in die Nacht. Vergebens sucht er den Kopf zu drehen. Immerzu muss er zurückblicken, als wäre dort etwas, was er nicht sehen will und doch nicht aus den Augen bringt.

Das ist der Stiefelreiter. 

Man kennt seine Geschichte. Ein Verbrechen hat er begangen gegen Recht und Gesetz und gegen die Menschlichkeit. Falsch geschworen hat er, aus Geldgier und weil er unfähig war zu Mitgefühl. Jetzt starrt er zurück in seine Vergangenheit und bringt sie nicht mehr los. 

So kann es einem ganzen Land mit seiner Geschichte gehen. 

 Es sollte nach vorn schauen, frei entscheidungsfreudig, mit Lust an der Zukunft und kühnen Plänen im Herzen. Aber eine furchtbare Gewalt hat ihm den Kopf umgedreht auf dem Rumpf. Es weiss nicht, wo das Ross hinspringt in der Nacht. 

Es sieht nur, was war, und begreift nicht, was es damit anfangen soll.»

 

Die eidgenössische Festgemeinde war tief beeindruckt. 

Sogar die Gegner der Jubiläumsfeier applaudierten.

Man hörte tuscheln: «Sie haben es gar nicht begriffen.»

 

Peter von Matt lebte die Trinitas der Aufklärung, fraternité, solidarité und égalité. Und im Gegensatz zu den politischen Folgen der Aufklärung wurde er weder zu einem Napoleon noch zu einem Literaturpapst. 

Literaturwissenschaft war ihm nicht elitäre Abschottung, nicht akademische Überheblichkeit. 

Literatur soll allen zugänglich sein, war seine Überzeugung. 

Denen dieser Zugang nicht leichtfiel, hat er Fenster weit geöffnet, 

auf verborgene Gärten, auf dunkle Wälder, die sich hinter Gedichten und Romanen verbergen. 

Oder verbergen könnten, 

denn nie hat er imperativ eine einzige Auslegung angepriesen. 

Immer wieder hat er es betont: Literatur paukt nicht eine Wahrheit ein. 

Das widerspräche dem Genom von Kunst. 

Das wäre Politik. 

Merkmal der Literatur ist, dass sie erkundet, ertastet und erfühlt werden muss. 

Bei diesen Suchen hat er uns geholfen. 

 

Nie hat er auf uns herabgeschaut.

Wir aber, wir schauen auch heute zu ihm hinauf.