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Mit Wienerwalzer und Kuckucksuhren gegen den Krieg?


23.9. - Rede im Kreisky Forum Wien

Warum Krieg?

Sie haben mich als Schweizer Bundesrat zu diesem Thema eingeladen, weil die Schweiz so lange von Kriegen verschont blieb. Wir alle machen uns ja idealisierende Vorstellungen über ein anderes Land. Auch ich habe aus dem Geschichtsunterricht über Österreich vor allem noch den Satz in Erinnerung: "Bella gerant alii, tu felix Austria nube!" Ein Land, dachte ich, das stets nur heiratet, wienerwalzert und sich so aus allen Kriegen heraus tanzt. Der Wienerwalzer, so stellte ich mir als Schüler vor, überwindet die Schwerkraft aller irdischen Streite und weist den direkten Weg zum Frieden.

So ist es ja heute noch: Verona Feldbusch - eine grosse Hochzeit, Fiona Swarowski - ein Grasser Walzer.

Dass die österreichische Geschichte doch auch noch eine andere als eine friedliche Vergangenheit haben muss, ging mir erst vor zwei Monaten endgültig auf. Ich besuchte meinen Amtskollegen und Freund Josef Pröll, Landwirtschafts- und Umweltminister. Er steht dem Lebensministerium vor und ich bat also den Taxifahrer, mich ins Lebensministerium zu fahren. Der zögerte lange. Doch dann dämmerte es ihm plötzlich: "Ach ja, das Lebensministerium, das befindet sich im Kriegsministerium."

Dort im Kriegsministerium unterhielt ich mich dann mit dem Lebensminister tatsächlich über eine Art Krieg, nämlich über die Fussballmeisterschaften 2008. Wir möchten einen möglichst zivilisierten Verlauf derselben und umweltfreundliche Anreisen, also einen sublimierten und grünen Krieg.

Die Ansicht, die Schweiz hätte viele Jahrhunderte keine Kriege gekannt, ist weit verbreitet. Wien hat das Seine dazu beigetragen, wurde doch im Prater der berühmte Satz in die Welt gesetzt:

"In Italien unter den Borgias, da hatten sie dreissig Jahre lang Krieg, Terror, Mord und Blutvergiessen, aber sie brachten Michelangelo hervor, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz, da hatten sie die Bruderliebe, hatten fünfhundert Jahre lang Demokratie und Frieden. Und was hat das hervorgebracht? Die Kuckucksuhr."

Orson Welles war bei den Dreharbeiten für den Film "Der dritte Mann" offensichtlich vom genius loci Ihrer Stadt beflügelt, denn dieser Satz war vom Drehbuch Carol Reeds nicht vorgesehen, Welles habe ihn spontan eingefügt.

Ein gefährlicher Satz, gerade weil er so wunderschön formuliert ist. Der Satz ist wie eine Sachertorte: verführerisch, süss, mit Marmelade gefüllt, mit einer geschmeidigen Glasur überzogen. Wie eine Sachertorte: ein Abguss aus einer Springform. Und das ist gemäss Wörterbuch - ein Klischee!

Ein Klischee in drei Lagen.

Das erste Klischee ist die Herkunft der Kuckucksuhr. Diese kommt nämlich aus dem Schwarzwald. Doch lassen wir Schweizer uns die Zuschreibung ganz gerne gefallen.

Leider auch andere historische Irrtümer, zum Beispiel das zweite Klischee, die Schweiz habe fünfhundert Jahre lang keinen Krieg gekannt.

Zunächst: Krieg ist nicht nur dort, wo Bomben Menschen zerfetzen, sondern auch dort, wo diese Bomben verkauft werden, wo Verträge über Waffenverkäufe unterzeichnet werden.

Sodann: Die Schweiz wirkt vielleicht friedlicher als sie tatsächlich war, weil der Frieden, der seit 1848 tatsächlich herrscht, auch für frühere Epochen angenommen wird. Vom15. bis zum 19. Jahrhundert kannte die Schweiz Bürgerkriege, wenige, kurze, aber: Es gab diese Bürgerkriege! Es gab die Schlachten von Kappel, von Villmergen, den Sonderbundskrieg. Die Sprachen bewahren die Dinge hier treuer auf als das kollektive Gedächtnis. Das schweizerdeutsche Wort "Putsch" ist in alle Sprachen übergegangen! Putschen bedeutet "plötzlich stossen", das Wort ging in die Welt nach dem Zürcher Putsch von 1839.

Der Putsch und nicht die Kuckucksuhr ist also schweizerischen Ursprungs.

Das dritte und gefährlichste Klischee in Orson Welles Satz ist die Rechtfertigung des Krieges als Vater der Kultur. Heraklits These: Polemos panton men pater esti, der Krieg ist der Vater aller Dinge, beschreibt die Entstehung des Kosmos aus der Unordnung. Doch ist der Satz von Intellektuellen, Schriftstellern und Politikern immer wieder als Rechtfertigung des Tötens verstanden worden, sie interpretierten, aus Krieg könne Grosses entstehen.

Bevor wir uns also in gemeinsamer Überzeugung fragen, wie Krieg vermieden werden kann, müssen wir uns vor Augen halten: Auf der Welt gibt es keinen Grundkonsens gegen den Krieg. Krieg wird immer wieder verharmlost, ja verherrlicht. Wir werden darauf zurückkommen.

Zunächst eine persönliche Rechtfertigung: Wenn ich aus der Schweizer Geschichte erzähle, so leitet mich nicht Helvetozentrismus, sondern Ihre Erwartungen, Sie haben mich ausdrücklich eingeladen, um Schweizer Erfahrungen zu hören. Anlass Ihres Vortragszyklus ist der Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud. Das ist ja auch ein wenig ein Dialog zwischen unseren beiden Ländern, denn wir feiern heuer in der Schweiz Albert Einsteins Jubiläum, Sie nächstes Jahr dasjenige von Sigmund Freud.

Einstein und Freud sind sich einig, dass die Verlagerung von Kompetenzen vom Einzelnen auf die Gemeinschaft eine sinnvolle Massnahme gegen Krieg sei. Dennoch möchte ich zunächst das Gegenteil, nämlich die Trennung erwähnen:

Trennung

Wenn zwei sich streiten, so reisst man sie zunächst einmal auseinander. Die Trennung ist eine Notmassnahme gegen den unmittelbar bevorstehenden oder den akuten Krieg. Der Kanton Appenzell trennte sich vor 400 Jahren angesichts der aufkeimenden Religionskriege zwischen Katholiken und Protestanten in zwei Halbkantone. Das war ein herausragender staatspolitischer Akt, der den einzelnen Bürgern sehr vieles abforderte, denn er war verbunden mit schmerzvollen Umsiedelungen der religiös durchmischten Bevölkerung. Dennoch ist so eine kriegerische Auseinandersetzung vermieden worden, wie sie damals in ganz Europa aus konfessionellen Gründen erfolgten.

Die beiden Halbkantone feiern diese friedensstiftende Tat immer wieder, aber noch heute je getrennt in den beiden Hauptorten, also in Appenzell und in Herisau. Eine einzige gemeinsame Feier führten sie im heurigen Jubiläumsjahr immerhin durch, ein Gedenkschiessen an die Schlacht am Stoss, denn diese haben sie vor 600 Jahren geeint gewonnen - gegen Österreich.

Eine Trennung, eine Mauer, ein eiserner Vorhang mag das Schlimmste verhindern, bringt jedoch noch keinen Frieden, sondern "kalten Krieg". Eine Trennung kann nur ein erster Schritt in Richtung Frieden sein, wenn sie in einer friedenspolitischen Geisteshaltung geplant und durchgeführt wird, sonst erhöht sie längerfristig nur das Konfliktpotential. Das wiederum führt zu gegenseitiger Aufrüstung. Verhindert Aufrüstung Krieg?

Die Wehrbereitschaft

Die Schweiz hat sich seinerzeit gegen die Achsenmächte militärisch gerüstet. Sie war überzeugt, nur mit Wehrwillen und Wehrhaftigkeit eine Überlebenschance zu haben.

Darüber, welche Rolle diese Wehrhaftigkeit tatsächlich spielte, ob wir deswegen von Angriffen verschont blieben, herrscht bei uns eine Diskussion unter Historikern und Politikern, aber auch zwischen der Generation, die damals aktiv war, und derjenigen, die nach dem Krieg geboren wurde. (Ich sei, so erfuhr ich erst bei der Vorbereitung dieses Vortrages, der erste Bundesrat, der nach dem Krieg geboren sei.) Wir wissen heute, dass sich dieser Wehrwille bei einem tatsächlichen Angriff auf das réduit in den Bergen reduziert hätte und das Mittelland aufgegeben worden wäre. Wir schmunzeln heute auch darüber, dass damals Bunkereingänge als Chalets getarnt wurden und Soldaten sich regelmässig als Bäuerinnen verkleiden und die Geranien giessen mussten. Fotobücher mit den entsprechenden Motiven verkaufen sich jedenfalls gut und die Panzersperren gelten heute als geschützte Biotope für seltene Tiere und Pflanzen, und ich als Umweltminister setze mich für ihren Erhalt ein.

Dennoch: Die Wehrbereitschaft von damals ins Lächerliche zu ziehen ist nicht gerecht, vor allem nicht dialektisch, weil sie die damaligen Massnahmen an den heutigen Erkenntnissen und Technologien misst und nicht an den damaligen Möglichkeiten. Überhaupt hat die heutige Generation nicht den geringsten Anlass, sich über Hellebarden und Armbrüste lustig zu machen, denn nach wie vor trägt jeder Schweizer ein Sackmesser, in der Regel nur im Innern des Landes, denn auf den Flughäfen werden sie stets konfisziert, selbst wenn wir sie als Geschenke mitbringen wollen. Deswegen kommen wir so oft mit leeren Händen.

Gewiss wurden wir auch aus anderen Gründen verschont, wie der geographischen Lage oder der Drehscheibenfunktion der Schweiz, auf die ich zurückkommen werde. Dass aber die Wehrhaftigkeit mindestens auch ein Element für die Verschonung gewesen ist, bleibt unbestritten.

Friedenssichernde Aufrüstung?

Ist aber diese "Wehrhaftigkeit", also die Abwehrbereitschaft, ein allgemein taugliches Mittel gegen den Krieg?

Die weltweite Aufrüstung folgt ja ihrer Logik. Heute existiert weltweit ein Atomwaffenpotential, das unsere Zivilisation mehrfach auslöschen könnte. Trotzdem existierte die Bombe nach Hiroshima sechzig Jahre lang, ohne dass sie die befürchteten grossen Zerstörungen angerichtet hätte, ja es wird sogar argumentiert, die westlichen Gesellschaften hätten nicht überlebt, wenn sie nicht auch Massenvernichtungswaffen gehabt hätte. Trotzdem kann die globale Aufrüstung nicht friedenssichernd sein. Denn allein schon der Besitz der Waffe dient allseitiger Erpressung und Erpressbarkeit, auch wenn sie gar nicht benutzt wird. Und wenn wir die Ideologie des Selbstmordattentates vom Individuum auf einen Staat übertragen, der die  Atombombe besitzt, so ist der weltweite Genosuizid vorstellbar.

Deswegen kann die erfolgreiche "Wehrhaftigkeit" des überlebenswilligen Kleinstaates nicht ohne weiteres auf weltweite Verhältnisse extrapoliert werden.

Die Vereinigung zur grösseren Einheit

Freud schrieb an Einstein, die Verlagerung der Kompetenzen auf eine gemeinsame "grössere Einheit, die durch Gefühlsbindungen zusammengehalten wird", sei eine langfristigere Massnahme, um Krieg zu vermeiden.

Sowohl die Gründer der Eidgenossenschaft als auch die der EU folgten diesem Gedanken. Die "grössere Einheit" als solche reicht nicht, das wissen wir auch von privatwirtschaftlichen Fusionen, die meist scheitern, weil die gemeinsame Unternehmenskultur fehlt. Der Widerstand eines Grossteils der Schweizerischen Bevölkerung gegen einen EU Beitritt ist wohl gerade die (noch) mangelnde Gefühlsbindung an diese riesige Gemeinschaft. Langfristig muss diese gemeinsame Gefühlsbindung auch das Ziel der UNO sein. Doch, wir wissen, das ist einstweilen eine Vision. Die USA sind jedenfalls ausdrücklich anderer Meinung. Sie halten es mit Schillers Willhelm Tell: "Der Starke ist am mächtigsten allein." Dabei hat Schiller diese Erkenntnis doch unserem Lande gewidmet...

Kompetenzen abzutreten heisst auch, Sanktionen gegen Verstösse an die "grössere Einheit" zu delegieren. Sanktionen gegen Verstösse sind unabdingbare Voraussetzung für jede Rechtsordnung. Gerechtigkeit, die gegen die Kriegsverbrechen auf dem Balkan in den Haag gesucht und gesprochen wird, kann ein Beitrag sein, damit nicht in späteren Jahrzehnten oder Jahrhunderten eine Vergeltungssucht, die sich über Generationen aufgestaut hat, wieder zu Krieg führt. Die USA haben das Statut zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (ICC) nach wie vor nicht unterzeichnet und tun - im Gegenteil - weiterhin alles Mögliche, um dessen Autorität zu untergraben. Der Starke ist am mächtigsten allein. Vielleicht ist es ja auch die blosse Angst vor Carla del Ponte.

Verflechtung von Infrastrukturen, Wirtschaft und Politik

Die Verlagerung von Kompetenzen führt zu einer Verflechtung. Eine solche Verflechtung der Infrastrukturen, des Handels, der Währung ist eine weitere Garantin gegen Krieg.

Die Verflechtung der Infrastrukturen sind von besonderer Bedeutung. "L'europe se construit par ses infrastructures": Mitterrands Satz zitiere ich als Verkehrsminister stolz bei jeder Tunneleinweihung, als Kommunikationsminister bei jedem Medienjubiläum und als Energieminister bei jeder Transitgasrohrleitung.

Wir verflechten die Infrastrukturen, um uns gegenseitig in Abhängigkeit und Pflicht zu nehmen. Früher wurden zur Wahrung der Autonomie die Infrastrukturen ganz bewusst inkompatibel gemacht: Verschiedene Geleisespuren und Stromsysteme. Heute braucht es Jahre für die Harmonisierung. Die beiden ehemaligen Verkehrsminister im Saal wissen mit mir: Wenn wir nur mal die Maut zwischen Österreich und der Schweiz harmonisieren könnten, würde es der Umwelt und der EU viel besser gehen. Dass es der Schweiz diesbezüglich bereits ein wenig besser geht, ist auf die damalige Hilfe von Caspar Einem zurück zu führen, der in der letzten Nacht der Verhandlungen in Brüssel, die übrigen EU-Ländern mit Sachertorten verführte und sie so zu einem bilateralen Abkommen mit der Schweiz brachte.

Vermutlich war es auch die wirtschaftliche Drehscheibenfunktion der Schweiz während des zweiten Weltkrieges, welche die Kriegsparteien von einem Angriff abgehalten hat. Denn diese wickelten ihre Geschäfte mit Dritten und untereinander über die Schweizer Banken ab. Dass die Schweiz gleichzeitig rund 200 Interessenvertretungen (von den USA in Deutschland, von Grossbritannien in Japan, von Italien in den USA) wahrgenommen hat, zeigt deutlich, wie die damaligen Mächte die Schweiz selbst mitten im grössten Krieg als Drehscheibe wahrgenommen haben. Diese Funktion war für das Überleben der Schweiz ausschlaggebend, wichtiger als das viel diskutierte Bankgeheimnis. Die politische Bedeutung und Fragwürdigkeit des Bankgeheimnisses bei der Steuerhinterziehung oder den nachrichtenlosen Vermögen sei deswegen nicht heruntergespielt, doch dafür, dass die Schweiz vom Krieg verschont blieb, trägt es nach unserer heutigen Überzeugung keine Mitursache.

Über dieser wirtschaftlichen Drehscheibe drehte sich in der Schweiz stets auch eine Art politische Scheibe, die Politik der Nützlichkeit. Nicht Nützlichkeit für die Schweiz, um allfällige Irrtümer zu vermeiden, sondern die Schweiz machte sich nützlich und blieb nützlich für die Welt aus diplomatischen und humanitären Gründen (IKRK).

Genau diese Drehscheibenfunktion, der möglichst alles durchdringende Handel, will ja mit einer Gemeinschaft von Staaten erreicht werden und zwar mit dem erklärten Ziel, so den Frieden zu stabilisieren. Das ist auch die Vision der Globalisierungsbefürworter: eine einzige weltweite Handelsgemeinschaft als eine mögliche Massnahme gegen Krieg. Das würde allerdings nur funktionieren, wenn eine solche Handelgemeinschaft auf einem fairen und gerechten Regelwerk beruhte, das allen Teilnehmern den Marktzutritt und somit Chancengleichheit bietet, ansonsten wäre es nur eine neue Variante von Kolonialismus.

Neutralität

Zum Vertrauen in die politische und wirtschaftliche Drehscheibe gehört, dass sie sich nicht in einem Staat befindet, der sich gegen die Kriegsmacht stellen könnte. Das war garantiert durch die Neutralität.

Sie erfolgte aus innenpolitischen Gründen: die Stände, also die Kantone hätten sich nicht auf gemeinsame Aussenpolitik einigen können, wären sich also in die Haare darüber geraten, ob sie nun Schweden oder Spanien unterstützen sollten. Die Neutralität wurde hier in Wien durch den Wienerkongress als im Interesse aller europäischen Staaten anerkannt. Erst nach dieser Erkenntnis wurde Wienerwalzer getanzt.

Ausgestaltung und Begründung der Neutralität haben sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt. Und sie wandelt sich weiter. Selbst im gegenwärtigen Schweizer Bundesrat wird sie unterschiedlich ausgelegt: Einerseits als Aufruf in Richtung Alleingang der Schweiz, anderseits als Aufforderung zur friedlichen internationalen Vernetzung. Tatsächlich gilt es, der stets immanenten Gefahr zu widerstehen, Neutralität nach jeweiligen wirtschaftlichen Interessen zu definieren. Entsprechende Vorwürfe wurden bei uns intern erhoben, als die Schweiz den Irak-Krieg - gestützt auf das Neutralitätsrecht - für beendet erklärte, und damit Schweizer Firmen erlaubte, Kriegsmaterial an die Konfliktparteien zu liefern.

Gleichheit

Wie Einstein und Freud fragen wir: Was treibt Menschen in den Krieg? Können wir zu seiner Vermeidung dort ansetzen?

Ökonomische Ungerechtigkeit ist wohl bis heute eine Hauptursache von Kriegen. Auch geistige, religiöse oder in der Volkszugehörigkeit begründete Differenzen fussen letztlich oft auf ökonomischen Ungleichheiten. Je besser der Wohlstand verteilt ist, umso weniger Menschen werden sich überzeugen lassen, dass ein Krieg ihre Lebensumstände verbessern kann.

Deswegen ist die Gleichheit ein Wert zur Vermeidung von Neid, Missgunst, Revolte und Krieg. "Das Gerechte muss für alle etwas Gleiches sein" erkannte Aristoteles. "Aus dem Gefühl der Gleichheit entspringt die Idee der Gerechtigkeit" formulierte umgekehrt Kant. In der Stadt Bern wurde zur Zeit des Ancien Régime vorgeschrieben, Häuser so zu bauen, dass keinerlei Prunk ersichtlich ist. Wenn ich Ihren Bundespräsidenten nächstes Jahr im von Wattenwyl-Haus empfange, so wird er sich wie praktisch alle Staatsoberhäupter zunächst wundern, in welch bescheidene Gasse und in welch unscheinbares Gebäude ich ihn führe. Wenn wir dann aber durch einen Hof in das hintere Gebäude und dessen Garten schreiten, werden wir die Pracht des grosseuropäischen Adels entdecken. Die Aristokraten von damals täuschten Gleichheit vor, um keinen Neid der Bürger zu wecken. Von solch scheinheiliger Vorspiegelung vermeintlicher Bescheidenheit sind unsere Manager in aller Welt nicht geplagt.

Demokratie

Die Gleichheit steht in Widerspruch zur Freiheit. Wie kann die Freiheit im Interesse der Gleichheit eingedämmt werden, oder besser: Wie kann erreicht werden, dass die Eindämmung der Freiheit akzeptiert wird?

Jede organisierte Gemeinschaft, ob Familie, Staat oder Staatenbund, kennt Regeln, welche die Freiheit der Menschen beschränken. Je mehr Menschen diese Einschränkungen akzeptieren, desto mehr werden Auflehnungen, Revolten oder Bürgerkriege vermieden. Das kann in einem Religionsstaat die gläubige Unterwerfung sein. Das ist in der westlichen Welt die Demokratie, in der Schweiz die direkte Demokratie. Volksbeschlüsse wie zum Beispiel der Beitritt der Schweiz zur UNO werden, so heftig sie umkämpft waren, definitiv akzeptiert, während ein Ausstieg aus der Kernkraft in Deutschland durch die vorherige Opposition und möglicherweise neue Regierung wieder aufgehoben werden kann.

Im Rahmen einer politischen Kultur Widerstand leisten zu können, ist ein Faktor, der hilft, Radikalisierung und Eskalation zu verhindern. Obwohl wir eher als immobiles Land gelten, gelang es doch, mit den Mitteln der direkten Demokratie 1975 einen neuen Kanton Jura zu gründen. Im Baskenland und in Nordirland sind hingegen ähnliche Probleme mit terroristischer Gewalt verbunden.

Vertrauen

Die Kriege, die uns heute beschäftigen, sind weder die Schlacht am Stoss, auch nicht der zweite Weltkrieg und seine zivile Fortsetzung durch Harry Lime, sondern die Terroranschläge in New York, im Irak, dem nahen Osten, Madrid und London. Wie verhindern wir diesen Krieg?

In den Filmen von Fritz Lang, welche kurz vor der Machtergreifung Hitlers entstanden, sahen wir die Methode von Dr. Mabuse, das Vertrauen in Institutionen zu erschüttern, um im so entstehenden Chaos das Böse aufzubauen zu können. Dieselbe Strategie verfolgt der Terrorismus, der den zivilen Flugverkehr, U-Bahn-Systeme oder die Börsen allein dadurch lahm legt, indem das Vertrauen der Menschen in funktionierende Abläufe zerstört wird.

Auch eine noch so wohl organisierte Demokratie ist auf das gegenseitige Vertrauen seiner Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Der Staat formuliert zwar moralische Normen, wie die bona fides, Treu und Glauben, kann jedoch die moralischen Grundvoraussetzungen für ein allgemeines gegenseitiges Vertrauen allein nicht schaffen.

Den Fundus des Vertrauens schafft die Tradition der Erziehung, genährt aus Religion und Kultur. Deswegen gewährt der Staat die Religions- und Kulturfreiheit. Er und alle gesellschaftlichen Kräfte sind auf die Moral angewiesen, Religion und Kultur hingegen darauf, sich frei entfalten zu können. Damit die Religionsgemeinschaften, die Kirchen, die Literatur, die Kunst und die Wissenschaft dies jedoch können, muss ihnen Freiheit gewährt werden. Dazu gehört auch eine materielle Unterstützung, wie sie in den verschiedenen Verbindungen zwischen Kirche und Staat oder in der Kulturförderung zum Ausdruck kommt.

Dazu gehört auch, unsere Aufmerksamkeit jenen Stimmen zu schenken, die in der muslimischen Welt das Recht auf freie Meinungsäusserung fordern. Nicht aus politischem oder militärischem Kalkül sollten wir diese Stimmen stärken, sondern weil sie Werte vertreten, die uns wichtig sind. Darum verdienen alle Menschen, die freie Gedanken äussern, unsere Anerkennung, und vorbehaltlosen Schutz und Unterstützung. Salman Rushdie hat das Gastrecht Ihrer Stadt geniessen dürfen, ich habe die Familienfotos mit Kleinkindern auf seinen Knien im Hause Scholten gesehen. Es ist solche Unterstützung, die ich meine.

Integration

Wie aber geht die offene, die Gesellschaft, die tolerant sein möchte, mit dem Intoleranten um? Gab es auf diese Frage je eine zufrieden stellende Antwort? Zarastro beginnt in der Zauberflöte wunderbar mit:

"In diesen heiligen Hallen

kennt man die Rache nicht

und ist ein Mensch gefallen,

führt Liebe ihn zur Pflicht"

kommt dann aber zum eher desillusionierenden Schluss:

"Wen diese Worte nicht erfreuen,

verdienet nicht, ein Mensch zu sein."

Nach dem Mord an Theo van Gogh wurde in vielen Medien schon das Ende der Multikultur beschworen. Integration ist oft ein verzweifelt schwieriger Prozess, der auch scheitern kann. Aber Separation, gar ein Rückfall in die Apartheid, kann nicht die Alternative sein. Es können ja nicht britische Muslime der zweiten Generation nach Pakistan zurückgeschickt werden.

Wir müssen anerkennen: Die aufgeklärte westliche Gesellschaft mit ihrer Orientierungs- und oft auch Haltlosigkeit bietet wenig Geborgenheit, sie zerstört auch allzu oft und rücksichtslos Normen von Minderheiten. Wer sich in unsere Kultur integrieren will, muss manche Demütigung überwinden können und kann leicht auch seine Identität verlieren. Doch es gibt ja auch ermutigende Beispiele: Die tibetischen Flüchtlinge haben sich in vielen Ländern trotz grosser kultureller Unterschiede gut integriert, die meisten sind ihrer Kultur treu geblieben und leben gleichzeitig mit den Regeln unserer Kultur. Auch die tamilischen Flüchtlinge, die zum Teil aus militanten Organisationen in die Schweiz kamen, respektieren unsere Gesetze und kämpfen mit legalen Mitteln für ihre politischen Ziele.

Es gibt also auch die Hoffnung, an der wir arbeiten müssen. Trotz aller Spannungen war der Dialog der Religionen wohl noch nie so weit fortgeschritten wie heute. Überall gibt es Menschen, die bereit sind, den Absolutheitsanspruch ihrer Religion zugunsten des Dialogs zurückzustellen. Papst Benedikt XVI hat in Deutschland eine Synagoge besucht.

Nähe

"Warum Krieg?" - Wenn sich zwei der bedeutendsten Forscher des vergangenen Jahrhunderts - ein Österreicher und ein Schweizer - dieser Frage stellen, erhoffen wir uns insgeheim, dass sie uns aus ihrem Fachgebiet eine Antwort liefern. Doch gibt uns Einstein keine physikalische Antwort und Freud belässt es nicht bei einer psychologischen Erklärung. Zum Glück! Denn das würde bedeuten, dass Krieg und Frieden von Naturgesetzen abhängen. Aber Einstein und Freud zwingen uns, die Frage anders zu stellen: "Warum den Frieden anstreben, und wie?" Frieden ist eine Kulturleistung, darum reden Einstein und Freud nicht aus der Warte der beobachtenden Forscher, sondern als beteiligte Bürger, als Citoyens, die sich ihrer politischen Verantwortung für den Frieden bewusst sein wollen.

Orson Welles alias Harry Lime begeht Kriegsverbrechen im Frieden, er handelt mit verwässertem Penicillin. Unmittelbar vor seinem berühmten Kuckucksuhrensatz rechtfertigt er dies gegenüber seinem Freund, ganz oben auf dem Riesenrad im Prater:

"Würdest Du wirklich Mitleid empfinden, wenn eines dieser Pünktchen aufhörte zu laufen - für immer? Und wenn ich Dir zwanzigtausend Pfund offerierte für ein Pünktchen, das nicht mehr weiterläuft, würdest Du dann ohne Zögern sagen, ich soll mein Geld behalten? Würdest du vielleicht nicht doch ausrechnen, wie viele Pünktchen du beiseite schaffen könntest? Steuerfrei, mein Lieber, steuerfrei."

Mit der Distanz nimmt auch unser Mitgefühl ab.

Einstein erlebte das Problem von Nähe und Distanz als persönliches moralisches Dilemma. Als überzeugter Pazifist unterzeichnete Einstein einen Brief, in welchem er Roosevelt den Bau einer Atombombe nahe legte. Denn er fürchtete, Hitler könnte die Bombe als erster haben. Er sah sich gezwungen, in strategischen Dimensionen zu denken und Abstand zu nehmen von der Vorstellung, wie diese Bombe Menschen tötet. Später bereute er diesen Schritt, in einer japanischen Zeitschrift bekannte er: "Töten im Krieg ist nach meiner Auffassung um nichts besser als gewöhnlicher Mord."

Charlie Chaplin hat den Unterschied zwischen einer Komödie und einer Tragödie mit der gewählten Kameraeinstellung beschrieben: Über eine Rauferei können wir fröhlich lachen, solange sie in der Totalen gezeigt wird. Wechselt die Kamera aber in die Nahaufnahme und zeigt uns das Opfer und wie es traktiert wird, erstarren wir.

Die Nahaufnahme weckt das Mitgefühl und stärkt das Gewissen. Globale Medienpräsenz und Berichterstattung rund um die Uhr bringt also nicht nur die Gefahr der Abstumpfung, sondern auch die Chance, dass sich alle Welt gegen Kriege in aller Welt einsetzt. Das wenigstens müsste die mediale Ethik der Kriegsberichterstattung aus aller Welt sein.

Unser Gewissen schärft sich durch die Nähe zum Geschehen und es erlahmt mit zunehmender Distanz. Systemische Politik kann durch ihre Distanz zum kalten Kalkül verkommen und dabei kann uns die innere Überzeugung gegen den Krieg abhanden kommen. Politik darf deshalb nicht vom Riesenrad aus erfolgen, von dem die Schalter und Walter die gewöhnlichen Menschen als Pünktchen sehen und umgekehrt, dass die Menschen die Verantwortlichen als in Gondeln schwebende Götter wahrnehmen müssen.

Technische und moralische Infrastrukturen

Wozu dies führt, zeigte uns New Orleans. Dem Norden wurde vorgeworfen, er habe den Süden wirtschaftlich und infrastrukturell vernachlässigt und damit einen "Krieg" gegen den Süden geführt; er habe das notwendige Mitgefühl vermissen lassen und die Elenden als blosse Pünktchen behandelt. Die verantwortlichen Eliten würden sich nur noch dem Wettbewerb widmen und sie hätten sich abgewendet, nicht nur vom Süden, nein überhaupt von der Nation, vom Staat, von der Gesellschaft, von der Solidarität.

Die Reduktion zwischenmenschlicher Beziehungen auf blossen Wettbewerb führt tatsächlich dazu, dass alle gewinnen wollen. Das geht aber nicht auf. Wettbewerb ist nicht nur darauf angelegt, Gewinner zu schaffen, er schafft ebenfalls Verlierer. Wenn sich auch die Politik systematisch an ökonomischen Werten orientiert und die Gemeinschaft, den Staat und die Kultur als bedeutungslos vernachlässigt, wenn sie sich von ihrer ausgleichenden, fürsorgenden und schützenden Rolle verabschiedet, dann schafft das die Basis zum Krieg.

In den USA und bei uns in Europa wächst eine Politik, welche der Demission der Politik das Wort redet und auch danach handelt. Genährt von Intellektuellen, die im totalen Wettkampf aller gegen alle Heraklits Unordnung herbeisehnen, aus welcher alsdann einer wie ein Phoenix aus der Asche steigt: Der Stärkste als Mächtiger allein. Wenn der Staat seine Rolle nicht mehr wahrnimmt, verliert er auch das Gewaltmonopol. Wenn er nicht mehr für Infrastrukturen, für soziale Sicherheit und für Rechtssicherheit sorgt, sehen sich die Menschen allein gelassen, und beim ersten Anlass zerbrechen dann die gesellschaftlichen Regeln.

Strassen, Schulen, Justiz zivilisieren die Menschen. Ohne solche Strukturen droht das Chaos, auch das moralische. Wie nah Infrastrukturen den kulturellen und moralischen Strukturen sind, wie sie uns beide zusammenhalten und das zivile Zusammenleben garantieren, zeigten die Bilder von New Orleans. Brechen die äusseren Dämme, brechen auch die inneren. Dann finden wir uns, wie Harry Lime am Ende des Films, auf der Flucht von Recht und Zivilisation in der Kanalisation - zusammen mit den Ratten. Verlieren wir Kleider und Kultur, haben wir nur noch die Zähne und die Klauen.

Freud schliesst den Briefwechsel mit dem Satz: "Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg." - "Zivilisation ist eine Blume auf einem immensen Misthaufen", habe Churchill oder André Heller gesagt. Wir müssen diese Blume giessen. Zur Kultur gehört alles, was uns lieb ist, auch Kuckucksuhren und Walzer. Jedenfalls ist eine anspruchsvolle Form kultureller Entwicklung der Walzer. Auch wenn man sich mal auf den Fuss treten sollte: Ein Tanz, der sich um Harmonie, Schönheit und Leidenschaft dreht, und sich gleichzeitig Takt und Rhythmus unterzieht, schafft nachhaltige Harmonie.

Vielleicht ist es eben doch der Wienerwalzer, der die Schwerkraft aller irdischen Streite überwindet und uns den Weg zum Frieden weist.