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Schweizerischer Bühnenverband


Schweizerischer Bühnenverband SBV 101 / Jahre Jubiläum / 7. 10. 2021

 

Zunächst gratuliere ich Ihnen, dass Sie sich dazu entschieden, nicht das 100. Jahr Ihres Bestehens zu feiern, wie das in profanen Kreisen zuweilen gepflegt wird, sondern das 101. Jahr.

101 ist eine Zahl, die sowohl rückwärts als auch vorwärts gelesen werden kann. Ein 101 – Jahr - Jubiläum schaut auf die vergangene Geschichte als auch in die Zukunft.

Grosse kulturelle Werke kreisen um die Zahl 101.

Denken wir nur an

-         Walt Disneys “101 Dalmatiner” oder an

-         Love “one 0 one” von Whitney Houston.

 

Ich schaute deshalb nach, was der 101. Bundesrat unseres Landes zur Bedeutung von Theaterbühnen äusserte und ich fand folgende drei Zitate:

  •  «Kultur ist die wichtigste Infrastruktur unserer Gesellschaft.»

(Das sagte er etwas verzweifelt bei Amtsantritt, als er unvermittelt für Tunnel, Brücken und Hochspannungsleitungen zuständig wurde, wovon er damals keine Ahnung hatte)

  • „In diesem Haus pocht der Herzschlag der Demokratie.“

(Er wurde von Medien zu einer umstrittenen Aufführung befragt und wich auf diese Weise aus, um nicht näher auf die Inszenierung einzutreten)

  • «Die Welt ist eine Bühne. Das Leben ein Auftritt. Wir treten auf, wir spielen, wir treten ab.»

(Das war seine Rücktrittsrede)

 

Das war gewiss immer etwas schwülstig, zugegeben. Aber es gibt feierliche Momente, da vereinen sich Theaterbühne und politische Tribüne.

Sie träumen dann gemeinsam davon,

-         wie Politik und Wirtschaft das Gesehene und Gehörte als Quelle für ihr berufliches Ethos nutzen,

-         wie die Bürgerinnen und Bürger Opernhäuser und Theater besuchen,

um dort neue Gedankengänge aus anderen Blickwinkeln zu entdecken und so ihr demokratisches Gewissen daran schärfen.

In solchen Momenten schweben Politik und Theater verklärt auf einer gemeinsamen Wolke, umflort von bezirzenden Musen.

Das währt vom Festakt bis und mit dem anschliessenden Aperitif riche. 

 

Am nächsten Morgen, wieder auf dem harten Boden, geht es meist etwas mühsamer weiter, sowohl in der Politik als auch im Theater.

Tribünen und Bühnen sind eben doch keine Wolken, sondern Bretter.

 

Politik wird mit dem Bohren harter Bretter verglichen (Max Weber, 1919),

Theater mit den Brettern, die die Welt bedeuten (Schiller 1803).

 

Spielhäuser aber sind die Scharniere, die diese beiden Welten zusammenhalten. 

 

Ein Scharnier ist das komplizierte Konstrukt eines Gelenkes, das sich um eine Achse dreht und so zwei Klappen zusammenhalten kann.

Zwei Klappen:

-         Die Werke der Dichter und Komponistinnen und

-         die Erwartungen des Publikums.

Die Leistung der Bühne besteht darin, die beiden Seiten zum gegenläufigen Schwingen zu bringen, ohne dass sie auseinanderfallen.

 

Ohne die Infrastruktur von Theatern gäbe es keine erlebbaren Dramen.

Natürlich können wir ein Theaterstück lesen; wir haben das in der Schule auch getan. Aber das blieb doch ziemlich blutleer und zweidimensional.

Erst die sichtbare Darstellung, erst die dritte Dimension verleiht einer Erzählung dramatisches Leben.

Erst diese Infrastruktur bringt die Schöpferinnen und Schöpfer von Literatur und Musik mit den Menschen zusammen, welche die Werke aufnehmen wollen.

 

Ein solches Scharnier zu handhaben, Sie alle wissen das, ist nicht himmlische Wolkenschieberei,

das ist irdische Knochenarbeit.

 

Erbracht wird sie von

Bühnenarbeitern, Kulissenschiebern, Souffleusen, Disponentinnen, Schauspielerinnen, Dramaturgen, Intendantinnen, Buchhaltern, Revisoren

und vielen anderen.

***

Beide Klappen des Scharniers haben sich in den letzten hundert Jahren merklich verändert.

Das sind zunächst die Rahmenbedingungen, welche das Publikum, vertreten durch die Verwaltung der Gemeinde oder des Kantons, stets neu festlegt.

Sich auf sie einzustellen, sie mitzugestalten ist die grosse Arbeit eines Bühnenhauses.

Dabei bleiben die genialistischen Musen mit ihren inspirierenden Küssen ganz gerne im Hintergrund,

denn es geht um sehr profane Dinge.

Ich erinnere mich an

-         die Bewilligung für eine Ausländerin, im Chor eines Opernhauses zu singen. Das wurde kantonal verweigert. Also Rechtsmittel bis in den Gesamtbundesrat. Dort eine heftige Diskussion: „Muss das jetzt unbedingt eine Südafrikanerin sein? Ich kenne selber eine Schweizerin, die singt in einem Chor im Sopra Ceneri. Die könnte man in Zürich doch auch nehmen.“

-         Oder an das Telefon eines Opernintendanten mitten in der Nacht an den Verkehrsminister:  «Ein Truck wurde an der Grenze bei Basel gestoppt. Es kann doch nicht sein, dass das Nachtfahrverbot für Lastwagen auch gilt, wenn Requisiten für eine Oper transportiert werden! Das ist doch Kultur! Du musst sofort intervenieren!»

Ja, es geht um Handfestes,

-         um die Finanzierung, um Subventionsverhandlungen, Sponsoring und immer wieder um Sparprogramme.

-         Es geht um Gerichtsprozesse, auch gegen das Bundesamt für Kultur (man kann sie zueilen gar gewinnen..)

-         Es geht um politische Vernehmlassungen,

  • zum Arbeitsgesetz, zur Kulturförderung,
  • zum Urheberrecht, zu den Sicherheitskonzepten gegen Corona,

-         Es geht darum, Gesamtarbeitsverträge auszuhandeln,

  • welche Löhne für Schauspielerinnen?
  • Mit welchen anderen Berufen sollen sie verglichen werden?
    • Mit Priesterinnen wie im alten Griechenland?
    • Mit Gauklern wie im Mittelalter?
    • Mit Lehrerinnen? Mit Staatsangestellten?
  • Geht das überhaupt zusammen: Soziale Sicherheit und künstlerischer Freiraum? Oder führt es zu Abhängigkeit und Befangenheit wie bei den vom Staat bezahlten Pfarrerinnen?

 

Handfest sind auch andere Fragen:

Welche Grenzen dürfen politische Instanzen, oder private Sponsoren und ihre Medien der künstlerischen Aufgabe eines Theaters setzen?

Die Spannungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die 101-jährige Geschichte des Bühnenverbandes:

 

Skandale, Buhrufe, Subventionskürzungen, Trennungen, Kündigungen,

(dazu kommen noch all die, die sich in gemeinsamem Einverständnis getrennt haben....)

Ihr Jubiläumsbuch schildert das detailliert und mit Namen.

 

Vor wenigen Jahren erklärte ein Theaterhaus einen Protestmarsch zum Privathaus eines Politikers zur künstlerischen Inszenierung.

Die Subventionskürzung war so läppisch wie voraussehbar.

 

In diesen Situationen ist die Leitung der Institution gefordert, ihre Scharnierfunktion wahrzunehmen.

-         Konzessionen? Kompromisse? Welche und welche nicht?

-         Demokratische Legitimation gegen künstlerisches Gewissen?

-         Es ist dies eine Verantwortungsethik, welche die Spielhäuser so wahrnehmen wie demokratisch gewählte Repräsentanten in Parlament und Executive es ebenso müssen.

-         Das bedeutet Bohren harter Bretter – für beide Seiten.

 

Gerade wegen dieser Spannungen, welche die Scharniere zum Quietschen und Knarren, die Verantwortlichen zum Ächzen und Stöhnen bringen, bleiben Theater und Politik nahe Verwandte.

***

Politische Veränderungen spiegeln sich immer auf den Bühnen, ganz wie die „Zwei Segel in der Bucht“:

„Wenn eins in den Winden sich wölbt und bewegt,

wird auch das Empfinden des andern erregt.“

 

Manchmal folgt die Bühne den Tendenzen in der Welt, manchmal nimmt sie sie vorweg.

Manchmal begleitet sie sie kritisch, manchmal schwimmt sie im Kielwasser des Zeitgeistes.  

 

Politik und Theater haben das Heu durchaus auf derselben Bühne, nur nie gleichzeitig.

 

Die Rezeption des Zeitgeistes ist gegenseitig. Wir beobachten, wie gegenwärtig bisher klare Zuordnungen zu Nationalität, Familie, ja zum Geschlecht aufgelöst und durch neue Kriterien abgelöst werden. Diese Prozesse haben Parallelen auf den Bühnen:

-         Die Gattungen der Bühnenkünste vermischen sich:

  • Ballett im Schauspiel, Film in der Oper, es ist heute wohl die Ausnahme, wenn eine Aufführung nicht multimedial erfolgt.
  • Opernsänger sind auch Schauspielerinnen. Früher sangen sie eher konzertant.
  • Heute betreiben sie eigentlich akrobatische Leistungen. Singen im Kopfstand. Liegestützen zu einer Arie.

-         Die literarischen Gattungen vermengen sich:

Was früher eine Ausnahme war, ist beinahe zur Regel geworden:

  • Es werden noch und noch Romane aufgeführt, obwohl sie ja eigentlich Epos und nicht Drama sind.
  • Gedichte werden inszeniert.
  • Ein Klavierkonzert ohne Worte wurde dargestellt in einem Schauspielhaus, nicht in einem Opern- oder Tanzhaus.

***

Rückblickend auf meine frühere Tätigkeit bin ich überzeugt:

Neue Technologien verändern uns mehr, als politische Ideen es vermögen.

Wir können das beobachten an der Eisenbahn, dem Automobil, der Elektrizität, oder der Gentechnologie:

Sie alle prägten unsere Überzeugungen, wie wir die Welt und Umwelt gestalten wollen.   

 

Heute ist es die Digitalisierung, die unser Denken und Fühlen verändert.

Dies bleibt nicht ohne Einfluss auf das Theater.

 

Die weltweit herrschenden Oligarchen aus dem Silicon Valley

und, in ihrem Sog, schweizerische Detailhändler oder Reiseunternehmen, zwingen uns Konsumentinnen und Konsumenten in ein binäres Entscheidungskorsett.

Umfragen, Befragungen, selbst Prüfungen an Schulen und Universitäten erfolgen in multiple choice Verfahren.

Sie berauben uns einer autonomen, kreativen Meinungsbildung, einer differenzierten Entscheidung und reduzieren uns zu Wesen, die nur noch binär „A oder B,“ „Ja oder Nein“ blöcken dürfen.

Das Suchen nach einer Alternative, nach einem Kompromiss wird zugunsten von „Wer ist dafür, wer ist dagegen“ verunmöglicht.

Erzwungene Glaubensbekenntnisse zwischen einem vorgespurten „Entweder / Oder“ entmündigen und verdummen uns.

Statt Anregung zum selbständigen Weiterdenken: Eintrichtern von Meinungen.

Das zeigt sich, wie jede gesellschaftliche Entwicklung, auch auf der Bühne.

Wenn uns die persönlichen Assoziationen von Regisseuren und Regisseurinnen als einzige Interpretation imperativ eingepaukt werden, löst sich ein bisheriges Element des Theaters auf,

nämlich die Anspielung, die Mehrdeutigkeit.

Sie sind, wie Vaclav Havel es umschrieb, ein Merkmal des Theaters.

 

Es ist eine Umschreibung der Kunst, dass sie erkundet, ertastet, interpretiert werden muss. Dass uns eine einzige Interpretation aufgenötigt wird, ist Politik mit dem Vorschlaghammer.

Aber:

Jede Technologie bietet Risiken und Chancen.

Verteufeln wir also nicht die Digitalisierung als solche.

Ihr Wandel ermöglicht auch neue Formen auf und hinter der Bühne, die uns neue Möglichkeiten geben.

 

Es geht um mehr als um Obertitel, Headsets oder um bühnentechnische Experimente mit mehrstöckigen, drehbaren Ebenen, die zuweilen den Inhalt einer Aufführung in den Schatten stellen.

Dies sind seit Deus ex machina ja eher geringfügige Änderungen.

 

Es scheinen sich tiefer greifende Neuerungen anzubahnen. Corona hat schon einiges bewirkt.

In der Oper Zürich wurden Chor und Orchester physisch vom Haus um einige Kilometer versetzt und per Glasfaser in den Saal übertragen.

Das wurde zwar auch scharf angegriffen und als Totenglocke der Oper angeprangert.

Gegenfrage: Wäre es denn besser gewesen, vor Corona zu kapitulieren?

Die Metropolitan in NY schloss für ein Jahr vollständig und verunmöglichte so, dass eine Gemeinschaft zusammenfinden konnte.

 

Dank einer Technologie wird doch immerhin das Zusammentreffen von Künstlern und Publikum ermöglicht, wenn auch zwangsweise in einer anderen, schwierigeren Form.

 

Und genau dies ist ja eine Funktion des Scharniers:

Die beiden Seiten zusammen zu halten, auch unter erschwerten Umständen. Ein Theater führt Menschen zusammen und schafft Gemeinschaft.

 

Dafür standen an der Ostküste der USA Videos vom Opernhaus Zürich zur Verfügung. Es soll sich eine eigentliche Fangemeinde gebildet haben. Warum? Auszüge aus Theater- und Opernaufführungen können live gestreamt und nachträglich auf YouTube angesehen werden.

 

So subventionieren wir doch auch die virtuelle Musikszene in aller Welt. Ein parlamentarischer Vorstoss folgt gewiss schon bald.

 

Corona beschleunigte für Künstlerinnen der Kleinbühnen den Gang in die virtuelle Szene. Dies wiederum entleert die analogen Bühnen.

Und zwar deswegen umso schneller, weil Agenturen von ihren Künstlern virtuelle Präsenz in den sozialen Medien ausdrücklich verlangen. Mit grösserem Bekanntheitsgrad der Künstler können sie besser für Zuschauer werben.

 

Soziale Medien verändern die Form der künstlerischen Arbeit.

Sie zwingen zur Visualisierung. Sie zwingen zur Kürze.

Und dies verändert den Inhalt.  

Diese Beschleunigung ist nicht neu. Schon lange müssen Originaltexte gekürzt und gekürzt werden, weil wir mehrstündigen Aufführungen weder von unserer Aufnahmefähigkeit noch vom Rhythmus des Tages folgen können.

***

Auch die andere Klappe des Scharniers, ist in Bewegung.

Das Publikum.

Seine Diskussionskultur verändert sich mit den Medien, die es nutzt.

Die Resonanzkörper, auf welche Kulturschaffende angewiesen sind, nehmen neue Formen an.

Klassische Zeitungen werden umgebaut, Kulturberichterstattung wird abgebaut.

Es verlagert sich der professionelle Kulturjournalismus auf ein Je-ka-mi im Netz.

***

Dies alles sei zunächst mal beobachtet und nicht gleich beklagt.

 

Jede Gemeinschaft, jede Gesellschaft, alle Kultur ist immer in Bewegung.

Beschwören wir also nicht bei jeder Veränderung auch gleich den Zerfall einer Gemeinschaft überhaupt.

-         Das Fernsehen hat trotz aller Befürchtungen den Zusammenhalt der Familie nicht aufgelöst (obwohl das seinerzeit prophezeit wurde).

-         Die Lokal- und Spartenradios haben die mediale Klammer unseres Landes auch nicht gesprengt (obwohl der 101. Bundesrat zu seinen aktiven Zeiten noch befürchtet hatte).

-         Und ebenso zerstören virtuelle Inszenierungen ohne jeden direkten Kontakt den Diskurs zwischen Zuschauerinnen und Theaterschaffenden nicht ohne weiteres; gewiss, die Gefahr besteht, aber zwingend ist dies nicht.

 

Solange Diskussionen und Kontroversen möglich sind, können sich Zwischentöne und mehrdeutige Interpretationen durchaus bilden.

Eine der Aufgaben analoger und virtueller Bühnen ist es, neue Technologien, neue Kommunikationsformen so zu nutzen, dass Resonanzräume für kulturelles Wirken entstehen. Auch dies wird das Bohren harter Bretter bedeuten.

Dass der Festredner nicht gleich die erste Bohrung vornimmt und etwas unverbindlich zu Ihrer kommenden Arbeit bleibt, gehört zur Tradition, an einem Tag wie heute, mit Ihnen auf einer Wolke schweben zu dürfen.  

 

***

 

Ob sich die Bretter, die die Welt bedeuten, tatsächlich in den virtuellen Kosmos verschieben? Wir wissen es nicht.

Wie wohl Ihr Jubiläum in 101 Jahren gestaltet wird?

Ob ein atomisiertes Orchester per Zoom aus aller Welt zugeschaltet wird,

alle spielen ihr Instrument einzeln von zuhause, aus Garagen, Zelten auf Ferieninseln oder Kreuzfahrtschiffen?

Das spart auch mühsame Arbeit wie das Hinein- und Hinausschleppen eines Flügels.

Wie auch immer:

Eine Festansprache gibt es in der Schweiz immer!

 Und die hält ein alt Bundesrat!

(Viellicht ist es Alain Berset, die durchschnittliche Lebenserwartung steigt ja exponentiell an).

Was er sagen wird?

Vielleicht wird er sagen:

  • « In diesem Haus pocht der Herzschlag der Demokratie.“
  • «Theater ist die wichtigste Infrastruktur unserer Gesellschaft.»
  •  «Die Welt ist eine Bühne. Das Leben ein Auftritt.»   

 

Vielleicht.

Aber sicher wird er sagen:

  • «Ich danke Ihnen, dass ich bei Ihnen auftreten durfte.» 

 

Ich schliesse mich ihm schon jetzt an.