Wie schwer wiegt Verantwortung?
Moritz Leuenberger - Romanshorn, 4. November 2011
Der Verantwortung bin ich zum ersten Mal als Primarschüler auf Bergwanderungen begegnet. Mein Cousin, der schon Gymnasiast war, befahl jeweils: „Du trägst den Rucksack und ich die Verantwortung; so sind wir quitt.“
Damals wusste ich also was Verantwortung ist: Ein schwerer Rucksack.
Die Auffassung meines Cousins ist auch heute noch sehr verbreitet, allerdings wird die Verantwortung oft weniger in Kilogrammen gemessen, sondern in Franken, Boni und Aktien.
„Verantwortung“ ist meist die Begründung für Lohnunterschiede.
Wir erleben in solchen Diskussionen den Versuch, Verantwortung numerisch zu quantifizieren.
Doch: Um wie viel grösser kann denn die Verantwortung eines CEO oder Managers gegenüber einem Arbeiter sein? Die Jusos meinen in ihrer Initiative: Höchstens zwölf Mal.
Oder: Um wie viel grösser kann die Verantwortung in der Privatwirtschaft gegenüber Menschen sein, die in einer Behörde oder einer Schule arbeiten? Denken wir etwa an jenen Präsidenten einer Vormundschaftsbehörde einer Landgemeinde, wo das Besuchsrecht eines geschiedenen Vaters zum Mord an dessen Sohn führte. Die Medien machten die Vormundschaftsbehörde verantwortlich.
Oder denken wir an den St. Galler Lehrer, der seine Verantwortung für eine Schülerin gegenüber ihrem Vater aus dem Balkan wahrnahm. Der Lehrer wurde umgebracht.
Bei den Lohndiskussionen mit meinen CEOs von liberalisierten Bundesbetrieben kam ich zur Überzeugung, dass sich Verantwortung ausschließlich an den Bezügen derjenigen bemass, die noch etwas mehr verdienten:
Sie schraubten ihre Ansprüche auf ein mehrfaches ihres vorgesetzten Bundesrates und argumentierten oder erjammerten die Berechtigung dazu mit Vergleichen zu der Privatwirtschaft.
Das gegenseitige Übertrumpfen mit den Lohn- oder Bonibezügen erinnert zuweilen an die Szene im grossen Diktator von Chaplin, wo sich die beiden Diktatoren im Coiffeurstuhl stets etwas höher schrauben.
Mein Argument nützte nichts, als ich jeweils sagte: „Je höher der Affe steigt, desto mehr sieht man nur noch seinen Hintern.“
Und so war ich denn schließlich umgeben von lauter Männern am Rande des Existenzmaximums.
Aber was ist Verantwortung?
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Etymologischer Einstieg: Wort, Antwort, Verantwortung
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Es gibt die erste Dimension, das Wort.
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„Am Anfang war das Wort.“ Das Wort bewirkt etwas.
Das Wort ist Macht.
Wer dies nicht wahrhaben will, kennt seine Verantwortung nicht.
Macht wird oft fälschlicherweise mit absoluter Macht gleichgesetzt und daher heruntergespielt. Mancher Politiker kokettiert damit, keine Macht auszuüben oder, schlimmer, er glaubt es sogar. Er sieht nur seine Ohnmacht gegenüber anderen politischen, medialen oder wirtschaftlichen Kräften. Dennoch hat er Einfluss, keinen omnipotenten, aber eben doch Einfluss. Einfluss ist Macht. Wer Macht ausübt, ohne es zu wissen, kann seine Verantwortung nicht wahrnehmen.
Das ist beim Wort nicht anders. Auch das Wort bedeutet nicht Allmacht, denn das Bild vermag ebenfalls zu verändern und Taten oder Waffen verändern unmittelbarer als das Wort.
Dennoch bedeutet jedes Wort Macht. Es ist die Gestalt unserer Gedanken. Gedanken erzeugen dadurch, dass sie gesprochen oder geschrieben werden, Wirkung. Sie bewegen uns selbst zu Taten, regen andere Menschen zu Gedanken, zu einer Überzeugung an, die sie ihrerseits in Worte fassen oder in Taten umsetzen. Dadurch üben Worte Einfluss aus. Und das ist Macht.
Schon nur einzelne Wörter üben Macht aus:
„Masseneinwanderung – Schluss damit“: Wörter können Geschosse sein.
„Die Indianer und die Kavallerie, die Süddeutschen und die Taliban “: Wörter können zum Bumerang werden.
„Freude herrscht!“: Wörter können Flügel erhalten.
Worte bedeuten Macht. Wer mit Worten arbeitet, in Politik, in den Medien, in der Kirche oder Wissenschaft, der muss das wissen, sonst ist er sich seiner Verantwortung nicht bewusst.
Das gilt besonders gegenüber Kindern oder Schülern. Wie unglaublich viele Behauptungen oder Wertungen habe ich erst im Erwachsenenalter als vollkommen haltlos aufgedeckt. Nicht dass alle wirklich wider besseres Wissen benutzt worden wären – viele sind es - , aber die Verantwortung gegenüber einem Minderjährigen, der die Ausführungen und Meinungen der Lehrer und Eltern als bare Münze nimmt, wurde sehr oft in keiner Weise wahrgenommen. Die prägende Macht von Lehrkräften kann nicht genug hoch eingeschätzt werden.
(Wie sehr Schüler an die Überzeugungskraft von Worten glauben, erlebte ich auch an den Reaktionen bei Besuchen im Nationalrat: Helles Entsetzen, dass den Rednern nicht zugehört wird. Ich musste antworten: Das ist eben keine Schule, wo man dem Lehrer aufmerksam zuhört und der Redner spricht in Wirklichkeit gar nicht zu den Parlamentariern, sondern in die Mikrophone und Kameras für Radio und Fernsehen. )
Mächtiger als Wörter sind Worte, Worte als Ausdruck komplexer Gedankengänge oder Überzeugungen: „Am Anfang war das Wort.“ Das heisst: Das Wort ist die Quelle der Sinngebung unserer Welt. „Das Wort“ bedeutet unsere Fähigkeit, Zusammenhänge zu verstehen, abstrakt zu denken und uns in Begriffen zu äussern.
Worte sind das Berufswerkzeug von Kultur, Politik und Medien. Manifeste, Streitschriften, Romane, Kolumnen haben die Welt, die kleine und die grosse, bewegt.
Die Zehn Gebote, Luthers Thesen, die Erklärung der Menschenrechte, das sind Worte, welche die Welt veränderten.
Nicht jede Veränderung ist von allen gewünscht. Deswegen können Worte ins Gefängnis führen, was Galileo Galilei, Vaclav Havel oder Nelson Mandela widerfuhr.
Damit Macht nicht zur Willkür verkommt, braucht es das Gegengewicht, eine Gegenmacht. Das war die Idee der Gewaltenteilung zu Verhinderung der Willkür des Staates.
2. Die zweite Dimension, die Antwort
So muss es auch mit der Macht des Wortes sein: Wer redet, muss die Gegenrede hören. Wer das Wort benutzt, muss das Anti-Wort, die Ant-wort gewähren. Und er muss sich dieser Antwort stellen.
Die Worte „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“ lassen keine Antwort zu.
Wer keine Antwort zulässt, kennt die Ver-antwort- ung nicht.
Es gibt Medien, die scheuen die Gegendarstellung wie das Weihwasser. Wer eine Geschichte nicht zu Ende recherchiert und seine Thesen nicht verifiziert aus Angst, „die Story könnte sonst sterben“, der lässt keine Antwort zu – und bleibt damit verantwortungslos.
Die Gegenrede, die Antwort ist ein Mittel gegen Willkür.
Das ist die Kontrolle der Macht, was auch schon wieder aus dem Wort selber hervorgeht:
Kontrolle heisst „Kontra Rolle“, also Gegenrolle.
Es wird jetzt diskutiert, wie die Kontrolle in der UBS hätte aufgegleist werden müssen, damit der 2 Mia Verlust nicht hätte entstehen können:
Das Parlament ist die Kontrolle der Regierung und umgekehrt.
Die Mitarbeiter eines Bundesrates sollten in erster Linie angestellt werden, damit sie ihm Gegenwort bieten können.
Früher haben Bundesräte persönliche Mitarbeiter bewusst aus anderen Parteien bestellt. Heute ist es durchwegs die eigene Partei, das stärkt die parteiliche Einseitigkeit und führt zu Tunnelblick und Ideologisierung, dem puren Gegenteil von politischer Verantwortung. Da wird die Antwort nicht gesucht, sondern sie wird gemieden.
Zu Beginn: drei Generalsekretäre: SP, CVP, FDP (mit dem grossen Vorteil guter Vernetzung).
3. Die dritte Dimension, die Verantwortung
Nun kann ich nicht in jedem Falle eine Gegenrede, eine Antwort bestellen. Die künftige Generation kann ich nicht dazu befragen, was sie von einem nuklearen Endlager hält. Mit den vom Aussterben bedrohten Spinnen im Amazonas kann ich auch nicht über Biodiversität diskutieren. Ich brauche aber für ethisch vertretbare Arbeit auch eine Antwort von demjenigen, der sich gar nicht direkt an mich wenden kann. Ich muss mir also - in meinem Kopf - seine Frage vorstellen und ich muss sie ihm – in meinem Kopf - beantworten.
- Was würden wir einer künftigen Generation antworten, wenn sie uns fragen könnte, was wir gegen das Ozonloch taten?
- Was würden wir einer künftigen Generation antworten, die uns fragt, wie wir das Elend am Platzspitz zuliessen (so wie unsere Generation jetzt über die Praxis an den Kindern der Landstrasse oder den Verdingkindern richtet).
- Wie rechtfertigen wir folgende Argumentation zugunsten neuer KKWs: „Ein Superunfall ereignet sich statistisch gesehen nur alle dreitausend Jahre.“ Angenommen, das geschieht tatsächlich erst in dreitausend Jahren und nicht schon morgen, was nämlich auch möglich ist, wie wir in Japan sehen, welches Recht haben wir gegenüber der künftigen Generation, einen Unfall in dreitausend Jahren weniger schlimm zu finden als ein Unfall heute?
2. Organisation der Verantwortung
Dieses Denken in der dritten Dimension des Wortes zeigt uns auch, dass wir und wie wir Verantwortung organisieren können:
- Systematisch Gegenmeinungen organisieren, second opinion, third opinion, viele Meinungen organisieren.
- Zurückfragen: Sich nicht den Fachleuten ausliefern. Bsp. SBB Lohnkürzung: Alternativen verlangen.
- Je vielfältiger die Zusammensetzung der Mitarbeiter, desto umfassender die Betrachtungsweise Voraussetzung: alle Mitarbeiter werden gehört; das braucht auch Ermunterung und aktive Ansprache. Nicht nur Platzhirsche zu Wort kommen lassen.
- Dazu gehört auch, starke Leute anzustellen. Die eigenen Schwächen kennen: Ich selber bin z.Bsp. kein Hirsch in Sachen Organisation. Deswegen einen Generalsekretär geholt, der das kann und ihm diese Bereiche auch delegiert. Ich gab also Macht ab und nahm so Verantwortung wahr, indem ich das UVEK stärkte.
- Die einfache Formel: Ich übernehme Verantwortung, indem ich alles selber ausführe, kann sehr verantwortungslos sein. Vgl. Ernennung Postchef durch VRP.
- Systematische Machtteilung:
Eine systemische Massnahme, um Verantwortung zu organisieren, ist die Machtteilung, wie sie in der Schweiz sehr ausgeprägt ist. Diese Teilung von Macht kann auch als Führungsgrundsatz angewendet werden.
- Dazu gehört aber als Gegenpol auch die klare Zuweisung von Verantwortung. Sonst Gefahr der organisierten Unverantwortlichkeit:
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- Dürrenmatt: die Panne, Die Panne ist zur Erklärung von Schicksal geworden, indem achselzuckend hingenommen wird, dass sich eine Verantwortung gar nicht zuordnen lässt.
- Agathe Christie: alle nehmen Messer in die Hand, damit niemand verantwortlich ist.
- Organisation der Sicherheit ist eine politische Verantwortung
BEISPIEL UVEK:
- Organigramm
Ich habe das theoretische Dreiecksmodell der Verantwortung sehr bewusst in ein Organigramm umgesetzt.
Dreieck von check und balances: Ämter – GS - Stab
- Die Ämter zuständig für technische Aspekte in ihrem Aufgabenbereich.
- Das GS zuständig für Realisierbarkeit im Hinblick auf Finanzen und die Planung der gesamten Bundespolitik
- Der Stab zuständig für politische und kommunikative Kriterien.
Alle drei erarbeiten Projekte primär aus ihrer Optik, wobei selbstverständlich alle drei auch stets die anderen Bereiche bereits einbeziehen. Doch der gegenseitige Diskurs wird aus der Optik der jeweiligen Spezialaufgaben geführt und systematisch organisiert. Die Partizipation aller drei Bereiche muss daher möglichst ab ovo eines Projektes beginnen, alle müssen also sehr früh einbezogen werden.
Dazu kommen die Zielkonflikte zwischen den Ämtern. Vor allem Umwelt und Infrastruktur. Auch sie werden schon von Beginn weg einbezogen.
Das führt dann bei einem Rapport über eine Starkstromleitung zur Teilnahme des BFE, des BAFU, des GS (Jurist und Finanzer), des Stabes (PM und PID).
- Integration der Umwelt in das Infrastrukturdepartement
Der Entscheid des Bundesrates, das damalige BUWAL vom EDI in das EVED umzusiedeln, wurde mit dem Gedanken der Nachhaltigkeit begründet, also mit dem Interessenausgleich zwischen Schutz und Nutzen. Vorher wurden die Zielkonflikte stets im Bundesrat selber gelöst.
(Vorher oft unmöglich, zwischen den Ämtern, die verschiedenen Departement angehörten, eine Einigung zu finden. Das führte in der Regel zu Obsiegen des Antrag stellenden Departementes. Das ist eine indirekte Folge des Konsensprinzips, das eben auch darin besteht, dem Kollegen aus lauter Rücksichtnahme nicht all zu sehr in das Departement hinein zu reden. Das heisst mit anderen Worten, dass die systematische Antwort und damit die politische Verantwortung nicht optimal wahrgenommen werden.)
Das Lösen der Zielkonflikte musste systematisch organisiert werden: von Beginn jedes Projektes: Beizug der anderen Ämter, die dereinst Widerspruch einlegen könnten. Langer Prozess, jedoch von Erfolg gekrönt. Infrastrukturämter denken in den Kategorien des Umweltschutzes. BafU umgekehrt berücksichtigt auch wirtschaftliche Kriterien und ist nicht mehr von religiösem Eifer getrieben.
So konnte auf eine verantwortbare Weise Nachhaltigkeit organisiert werden. Dieses Organisationsmodell ist denn auch auf Interesse in anderen europäischen Staaten gestossen und übernommen worden (F, D, GR).
Das Organigramm UVEK ist auch von Machtteilungsidee des Staates gewachsen, die in unserer Verfassung sehr ausgeprägt ist. Die Organisation mit gegenseitiger Kontrolle, aber auch Zuweisung von Autonomie in klar zugeteilten Bereichen entspricht also der Vorstellung eines demokratischen Gemeinwesens, verantwortungsvoll zu handeln.
Exkurs: Das Mitregieren der Öffentlichkeit und der Medien als besondere Herausforderung an die Verantwortung
Eine Besonderheit politische Führung besteht in der regen Anteilnahme der Öffentlichkeit. Gehört zur Demokratie. Deswegen Öffentlichkeitsprinzip.
Positiv: Medien wagen Kritik, die sonst niemand wagt. Gefahr, wegen Übertreibungen nichts mehr ernst zu nehmen. Die Kunst besteht darin, Kritik auf ihre Berechtigung zu überprüfen.
- Es ist die explizite Aufgabe in der direkten Demokratie, politische Stimmungen aufnehmen, zu prüfen und zu berücksichtigen, damit eben auch eine Minderheit auch zum Zug kommt. Das hat sich aber vom eigentlichen verfassungsmässig vorgezeichneten Weg - Vernehmlassungsverfahren, parlamentarische Beratung, Referendum, Volksabstimmung - verlagert auf direkten Druck einzelner Medien, einzelner Parteien angeblich im Namen des Volkes teilweise angeblich legitimiert durch Meinungsumfragen. Führt zu dreister Mitführung einzelner Medien, ohne dass sie demokratisch dazu legitimiert wären. Dass der Einfluss der Medien zu gross ist, ist allerdings in erster Linie eine Kritik der Abhängigkeit der Politik gegenüber den Medien. Es wäre Sache der politischen Instanzen, ihre eigen Autonomie zu wahren.
- Keine Umfragedemokratie. Kein Pranger, kein Volksgericht. (Woher kommt der kulturelle Stil à la Musikstar?
- Medien haben eigene Interessen, sie wollen Opfer. Es ist ungerecht, Mitarbeiter deswegen zu opfern, weil das angelblich die Öffentlichkeit verlange: Cron,
- Vgl. Perler (Freundin in Sicherheitsüberprüfung)
- Auch politische Rücktrittskultur: Das kann mitunter sogar verantwortungslos sein. Ägyptische oder indische Verkehrsminister nach einem Eisenbahnunglück, auch wenn sie soeben in das Amt kamen und für vernachlässigte Infrastrukturen keine Schuld tragen. Das ist reine Symbolik.
- Bei Rücktritt Grübel war das etwas anderes: Er sagt, ich war verantwortlich dafür, dass Kontrolle nicht funktionierte. Aber ein soeben berufener Eisenbahnminister muss nach einem Unfall den lead nicht abgegeben, sondern in besonderer Weise wahrgenommen werden:
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- Nach Gotthardunfall: Lüftung.
- Nach Zug: Ombudsmann und Sicherheit in Parlamenten.
- Nach Crossair und Überlingen; NLR Bericht und Umorganisation BAZL.
- Das heisst nicht notwendigerweise, sofort eine einzige, dezidierte Meinung zu vertreten. Oder bereits eine klare Schuldzuweisung vorzunehmen. Sie kann auch bedeuten, den inneren Zwiespalt offen zu legen. Medien wollen zwar klare Antworten. Die gibt es nicht immer und es gibt sie nicht immer sofort. Es gibt Dilemmata. Sich nicht in die Enge treiben lassen und das Dilemma schildern. Wird meist verstanden (Velohelmpflicht). Gerade wenn ein Unternehmen oder eine Organisation im Wandel ist, sucht sie erst noch den Weg. Auch hier: Sich als Suchende erklären statt sich auf etwas fixieren lassen, wo man sich selber noch gar nicht festlegen kann.
- À propos Katastrophen: eine andere Art der Verantwortung kann auch die Präsenz darstellen: Zuerst wollte ich nicht gehen, bis ich die tiefe Symbolik begriff. Es ist auch Verantwortung, wenn man solidarisch mit den Mitmenschen in Nöten ist. Da sein, zugegen sein. Was für einen BP und die Bevölkerung in Zug oder beidseits des Gotthardtunnels gilt, gilt auch für Mitarbeiter bei einem Todesfall.
3. Inhaltliche Umschreibung von Verantwortung?
Ich kann mir vorstellen, dass Sie an der inhaltlichen Frage von Verantwortung mindestens ebenso sehr interessiert sind, wie an deren Organisation. Durch die Wahrnehmung von Verantwortung, durch den Willen, Entscheide zu treffen, ist ja noch nichts über den Inhalt der Verantwortung gesagt.
Wie können wir Verantwortung eines Politikers, eines Lehrers, einer Mutter, einer Geschäftsfrau für alle definieren, ohne in absolut unverbindliche generell abstrakte Floskeln zu flüchten?
Verantwortung ganz generell inhaltlich zu beschreiben bedeutet letztlich, ein ethisches Konzept für die Gestaltung der Gesellschaft, für die Führung eines guten Lebens zu entwerfen.
Wie bei jeder generell abstrakten Umschreibung von Grundsätzen, die allgemein gültig sein sollen, drohen wir in unverbindliche Selbstverständlichkeiten abzugleiten, wogegen erst die konkrete Anwendung im Einzelfall zeigen kann, ob der Faden auch wirklich hält, was das Strickmuster versprach.
Auf generelle Grundsätze können wir uns von links bis rechts gut einigen. Ein Parteiprogramm ist bald einmal erstellt. Die massiven Schwierigkeiten entstehen bei der Umsetzung (also dann, wenn die Liebe zur Schweiz tatsächlich vollzogen werden oder der Kapitalismus tatsächlich überwunden werden soll).
Das ist beim Begriff der Verantwortung nicht anders.
Entscheidend ist nie die theoretische Umschreibung, sondern der konkrete Einzelfall.
Von daher ist Verantwortung tatsächlich eine Methodik des Denkens, eine Kunst, dem Gewissen zu folgen.
Wir haben gesehen: Nicht immer ist da jemand zugegen, der tatsächlich antworten kann, weswegen wir diesen Jemanden in unsere Gedanken einzubeziehen, seine möglichen Fragen zu beantworten haben, seine Antwort in unsere eigenen Gedanken einzubeziehen haben.
Dies ist der Sinn der Verantwortung: Das Gewissen zu befragen und dem Gewissen eine Antwort geben zu können. Verantwortung bedeutet also die Schärfung des Gewissens.
Dieser innere Dialog bedeutet, das eigene Gewissen zu befragen und ihm, das heisst einem imaginären Vertreter einer späteren Generation oder auch einem Richter, einer PUK, einem Gott, den wir uns als Richter vorstellen, zu antworten.
Indem wir uns Fragen vorstellen, die aber konkret nicht gestellt werden, die künftig nach vollbrachter Tat gestellt werden könnten. Was würde ein Gegner einwenden? Wie würde ich das später einer PUK erklären? Wie reagiert die SVP, die Medien?
Stephan Wehowsky: Verantwortung heisst Zögern. Doch, das ist nicht Zögern und Zaudern, denn es sind sehr schnelle Entscheidungen möglich.
In einer Gruppe ist es einfacher, diesen fiktiven Dialog mit möglichen Gegnern zu pflegen, etwa bei der Erarbeitung von nasty questions vor einer Medienkonferenz.
Wer allein entscheiden muss, hat es schwieriger. Aus diesem Grund gibt es auch Supervision, Erfahrungsgruppen etc. Deswegen auch bin ich Anhänger eines partizipativen Führungsstiles (den ich pflegen konnte, während ich jetzt allein vor einem Labtop sitze...)
Wieder habe ich also auf eine inhaltliche Frage mit einem Organisationsmodell geantwortet. In der Tat bin ich der Überzeugung, dass es formale Kriterien gibt, Verantwortung wahrzunehmen. Aber ob diese so wahrgenommene Verantwortung dann im konkreten Einzelfall ethisch begründet ist oder nicht, ist eine Frage der Ethik selber.
Verantwortung bedeute ethisches Verhalten, das in jedem einzelnen Fall erarbeitet werden muss. Es kann geübt, geschärft, geplant und organisiert werden. Doch nie können wir uns einem Einzelentscheid entziehen.
Dazu gehört auch die Professionalisierung in der Arbeitstechnik
4. Ist Verantwortung Last oder Freude?
Wie schwer wiegt sie nun, die Verantwortung? So schwer wie ein Rucksack eines Primarschülers oder der Bonus eines CEO?
Ich habe in zahlreichen Reden als Bundesrat die Überzeugung vertreten, die Menschen empfänden Verantwortung als eine Freude. Als Beispiel habe ich erwähnt, dass schon kleine Kinder die Verantwortung für ein Haustier übernehmen möchten oder das jüngere Geschwister hüten oder erziehen möchten. Die Mütter in meinem Stab haben mir da immer widersprochen; das sei nicht so, ihre Söhne wollten nicht einmal abwaschen.
Vielleicht vertrete ich also eine völlig idealisierte Meinung. Aber ich bin immer noch davon überzeugt und fünfzehn Jahre Bundesrat bestärken mich darin:
Die Menschen übernehmen gerne Verantwortung:
- Freiwilligenarbeit:
-
- Sozialwesen,
- Rettung,
- Vereine,
- direkte Demokratie
- Das tun wir auch für uns selber, uns selbst zuliebe.
Für den Einsatz zugunsten der Armen oder Obdachlosen habe ich das Entgelt, ein Wohltäter zu sein, öffentlich oder auch nur vor mir selber.
- Wir sind soziale Wesen, wir helfen, nehmen spontan Verantwortung für andere wahr. Der selbstbezogene Antrieb kann ebenso Gutes hervorbringen wie der Altruismus Schlechtes bewirken kann.
- Beat Richner. Keine Gesinnungsschnüffelei.
5. Verantwortung als Säule der Demokratie
Diese Auffassung von Verantwortung äussert sich in all den wunderbaren Appellen, die aus den Kapitolen Roms und Washingtons erschallen:
„Schau nicht, was der Staat für dich tun kann, sondern was du für den Staat tun kannst“.
Diese Ethik war der Gehalt von Gandhi’s Aufruf:
„Be the change you want to see in the world“.
Darin steckt der tiefe Glaube, wonach das private zugleich das öffentliche Verhalten sein soll.
Verantwortung ist eine zentrale Forderung unserer Bundesverfassung. Die Demokratie begnügt sich nicht mit der Gesinnungsfreiheit in all ihren Ausdrucksformen, wie der Meinungsäusserungs-, der Medien- und der Vereinsfreiheit. Sie erwartet von allen, dass sie die Gesellschaft mit gestalten.
Der Markt kann vieles, aber er kann keine Verantwortung übernehmen. Der Markt ist ein reiner Mechanismus, der auf Angebot und Nachfrage reagiert.
Deswegen steht in Art. 6 BV:
"Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei."
Der Citoyen, so schwebte der Aufklärung vor, gestaltet den Staat. Das ist kein Diktat, sondern ein Credo: Der Mensch ist ein soziales Wesen, das sich gerne für andere und für die Gemeinschaft einsetzt. Die Menschen wollen Verantwortung übernehmen und tragen. Das beinhaltet auch die Tugend, sich die Hände zu beschmutzen, sich nicht davor zu scheuen, dass einmal etwas nicht gelingt, dass vielleicht etwas falsch gerät.
Zum Mut zu Verantwortung gehört auch das Risiko, einen Fehler zu begehen, das Risiko des Scheiterns.
Das muss auch akzeptiert werden durch PUK, durch Medien, durch die Richter. Wer den Fehler nicht will, will den Menschen nicht.
Dieser Wille und dieser Mut werden zuweilen gedämpft, wenn wir in der Welt Terror, Elend, Bomben sehen. Dann macht sich Hoffnungslosigkeit breit und viele fühlen sich machtlos. Mancher möchte am liebsten aussteigen oder, wie Dostojewskis Iwan Karamasow gestand, "dem lieben Gott die Eintrittskarte zurückgeben". Wie verständlich ist da die Abkehr, das Wegschauen. Wer wegschaut, will die unangenehme Wahrheit nicht wahrhaben, unternimmt nichts gegen sie und verfestigt sie so. Auch wegschauen kann zur Lüge verkommen.
Doch ich traue den Menschen eine andere Reaktion zu. Ich beobachte immer wieder Menschen, die nicht wegschauen, nicht bei einem gefährlichen Unfall, nicht bei Unrecht, das sie sehen, nicht bei einer ungerechten Gesetzesregelung, die sie nicht verstehen können. Sie hoffen und setzen sich für ihre Hoffnung ein. Sie stellen sich den Herausforderungen, sie verfallen nicht dem Pessimismus, begnügen sich aber auch nicht damit, einfach optimistisch dem Lauf der Dinge zu vertrauen, sondern sie arbeiten für ihre eigene Hoffnung, indem sie beherzten Mut zeigen. Und wie wir ganz am Anfang dieses Textes sahen: Das ist nicht nur Politik in einer Partei oder in einem Parlament. Das ist auch die Politik, die in der Sozialarbeit oder in der Katastrophenhilfe oder Kultur (Mike Müller, Elternabend) geleistet wird. Dieser Einsatz ist schon errechnet und in Zahlen dargestellt worden. Er macht Milliarden und Milliarden aus, je nach Land, und dann zeigt sich: Kein Staat könnte ohne diesen Einsatz überhaupt bestehen, ökonomisch nicht und moralisch nicht.
Die Menschen folgen ihrem Gewissen und leisten in einer unvollkommenen Welt ihren Beitrag im Dienste der Allgemeinheit. Sie wollen nicht Unverbindlichkeit, blossen Spass oder schöngeistige Worte, sie wollen nicht mit einem „Gespräch über Bäume“ Untaten verschweigen. Denn wenn sie sich nicht einmischen würden, wenn sie wegschauen würden, würden sie das eigene Gewissen belügen. Sie alle sind Politiker und Politikerinnen und leisten ihren Einsatz mit Leidenschaft.
Diese Leidenschaft ist nicht ein schwerer Rucksack.
Sie ist innere Berufung, Verantwortung übernehmen zu dürfen und darin etwas Schönes und Beglückendes zu erleben.