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Heckerhut


Dankesrede anlässlich der Preisverleihung des Heckerhutes in Konstanz - Moritz Leuenberger, 24. November 2011

Es ist für mich ein hohes Glücksgefühl, den Heckerhut zu erhalten und vor allem auch, ihn behalten, also selber tragen zu dürfen.

Ich habe in meinem Leben als Bundesrat schon einige Hüte geschenkt erhalten,

  • bei jeder Tunnel- oder Brückeneröffnung einen Helm,
  • viele Polizei- und Feuerwehrmützen als Erinnerung an Blasmusikjubiläen und
  • einen Federnschmuck von einem Indianerhäuptling aus dem brasilianischen Urwald.

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Doch all diese Hüte musste ich ins Bundesarchiv abgeben, denn ein aktiver Bundesrat darf gemäss unserer Bundesverfassung weder Orden noch Hüte annehmen; er könnte sonst seine Unabhängigkeit verlieren und fremden Mächten dienen.
Das wissen wir seit dem Gesslerhut.
Er wurde von einem Tyrannen an eine Stange gehängt. Der Tyrann kam aus einem Land, das heute der EU angehört.
Ein deutscher Reporter namens Schiller hat das aufgezeichnet und seither gilt bei uns:

Keine Hüte aus dem Ausland, zumindest nicht für aktive Politiker!
Und niemals ab der Stange, sondern, wenn schon, maßgeschneidert!  

Da ich aber vor einem Jahr als Bundesrat den Hut nahm, darf ich den Heckerhut heute mit gutem Gewissen entgegennehmen.

 

Natürlich möchte ich ihn, wie das bei den meisten Preisen der Fall ist, weitergeben, in diesem Fall an die Schweizer Stimmbürger, doch die haben in nicht die Hutgrösse 59 wie ich, mindestens nicht in ihrer Gesamtheit.
Die Schweizer Stimmbürger bringt man ohnehin schwerlich unter einen Hut.  

Aber zumindest die symbolische Bedeutung Ihres Preises will ich dennoch weiter geben, denn ich darf mir die Errungenschaft der direkten Demokratie nicht an den eigenen Hut stecken.

Ich habe zwar von ihr profitiert, vor allem als Verkehrsminister:  

Als ich vor 13 Monaten vor den Kameras der Welt den Durchstich des Gotthardtunnels feiern konnte, war das der Erfolg unserer direkten Demokratie.

Dank ihr fiel der letzte Stein pünktlich und zu den vorgesehenen Kosten.

Insbesondere die Verkehrspolitik führt mich deshalb immer wieder nach Deutschland, weil der Vergleich NEAT / Stuttgart 21 zu regen Diskussionen anregt.
W enn ich aber in wohlgefällige Selbstbeweihräucherung zu taumeln drohe, kommt meist das Stichwort: „Minarettinitiative!“ und jede helvetische Überheblichkeit weicht mir aus dem Gesicht; mit ihr möchte ich am liebsten nichts am Hut haben.

Demokratie als Ideal und als Worthülse

Demokratie ist ein Zauberwort. Sie ist eine Vision, die nicht nur alle anstreben, sondern die oft auch unberechtigt und wider besseres Wissen für sich in Anspruch genommen wird.

  • Im arabischen Frühling wird von Demokratie geträumt,
  • Pakistan lobt seine Demokratie,
  • George W Bush versprach Irak eine Demokratie und fand schon zum voraus, mit dem Abzug seiner Truppen sei sie dann erfüllt.
  • Die DDR nannte sich eine Demokratie.

Demokratie ist ein Wort, das durch Lüge in das Gegenteil seiner Versprechung und Verheissung verkehrt werden kann, so wie das Wort Sozialismus auch.
Im Namen von Sozialismus und Demokratie sind Menschen umgebracht worden sowie im Namen der Worte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ ebenfalls. „Das Wort Sozialismus ist für uns zu einem Gummiknüppel geworden“, berichtete Vaclav Havel bei seinem Staatsbesuch über die Zeit vor der Wende.
Es kommt also immer darauf an, wie Demokratie praktiziert wird.
Auch wir, auf welchen Ufern des Bodensees wir auch immer zuhause sein mögen, haben allen Grund, unsere Demokratien nicht als ewige Ruhekissen zu betrachten, auf denen wir ausruhen dürften.

An unseren Demokratien feilen wir ständig, weil sie sich eben auch stets verändern müssen. Wer den demokratischen Grundgedanken erhalten will, muss die Form ständig erneuern.

In Abschiedsrede vor einem Jahr (wir treten auf, wir spielen, wir treten ab) gesagt: „Ich kenne keine bessere Staatsform als die direkte Demokratie, aber auch keine anspruchsvollere Staatsform.“

Die demokratische Grundidee ist der Citoyen, der sich, sein Wissen, seinen Verstand, auch ein Teil seines Einkommens und Vermögens, einbringt, und damit den Staat gestaltet.
Ein Referendum ist demnach immer Gestaltung des Staates und nicht die Abrechnung mit der classe politique, nicht Notbremse, nicht Griff zu einem Trick in der Zauberkiste, wie Papandreou es versuchte.  

Wenn nämlich nur von Fall zu Fall, vor allem bei verfahrenen Situationen quasi als Notventil abgestimmt werden kann, verkommt die Abstimmung zu einem Ventil für aufgestauten Zorn gegen die Politik und die Regierung im Speziellen.
Stichwort: Wutbürger.

  Die permanente Gestaltung des Staatwesens ist durchaus anspruchsvoll:

(Abstimmung im Kanton Zürich vom nächsten Wochenende: Pistenausbauverbot Flughafen, Aufwertung eines Platzes für 4 Mio, blaue Zone, Wohnpolitische Grundsätze für die Gemeinde, Ferienregelung des Personals der kantonalen Verwaltung, Initiative gegen Stau, 2 Ständeräte)  

Das bedeutet die Verantwortung, sich zu informieren, die Verantwortung, um die Folgen des Entscheides zu wissen. Da solche Abstimmungen mindestens vier Mal im Jahr stattfinden, müssen die politischen Antennen der Stimmbürger eigentlich ständig ausgefahren sein.

 

Gestaltung des Staates, das ist mehr als abstimmen.

Ideal wäre Konsens. Nicht möglich, also:
Kompromiss. Auch das ist nicht immer möglich, also als Notlösung:
Mehrheitsabstimmung.

Wenn von allem Anfang an auf eine Mehrheitsabstimmung zugesteuert wird, wird der Grundgedanke der Demokratie nicht erfüllt.

Demokratie darf nicht zu einer Diktatur der Mehrheit verkommen.  

„Wer ist dafür? Wer ist dagegen? Demokratie ist ein Segen.“ Das ist zu einfach.
Der Geist der Demokratie erfordert mehr.  

Minderheiten aufnehmen, so dass sie sich später mit dem gefundenen Kompromiss dennoch identifizieren können.

  • Deswegen Vernehmlassungsverfahren.
  • Deswegen erfolgt ein früher Einbezug aller Betroffenen: Entscheide über Standort oder Linienführung einer Infrastruktur dürfen nicht einfach nach dem St. Floriansprinzip erfolgen (das wäre Mehrheitsdiktatur).
  • Deswegen bei der Sachplan Endlagersuche für nukleare Abfälle (wo sich auch die Nachbarn mit dem Resultat zufrieden erklären sollen).
  • Bahn 2000: Informationsveranstaltungen, Liniensuche. Viele Kompromisse: teilweise Untertunnelung.
  • So wurde auch breit über die soziale Bedeutung des Infrastrukturprojektes diskutiert:
  1.  
    1. Anbindung an die Wirtschaftszentren.
    2. Kompromiss Netzvariante.

Tönt alles sehr harmonisch; war aber sehr umstritten:

  • (vieles blieb bis zuletzt umstritten: Halt in Olten oder nicht?)
  • Vier Volksabstimmungen: Linienführung, Finanzierungsfonds, Mittel des Fonds (LSVA), bilaterales Landverkehrsabkommen mit der EU.
    • LSVA zeigt einen entscheidenden Vorteil der Volksabstimmung: Die Akzeptanz. Das Volk hat gesprochen:

  Vergleich mit Maut von Manfred Stolpe, die verzögert wurde, in der Hoffnung auf einen Regierungswechsel.

 

  • Die stetige und langfristig angelegte Auseinandersetzung mit der Materie und die Gewissheit, selber mitentscheiden zu können, führen zu politischer Verantwortung und schaffen so Identifikation:
  1.  
    1. NEAT und Bahn 2000 wurden auch gut geheissen aus Liebe zur Bahn und aus stolzem Pioniergeist, den längsten Tunnel der Welt beschlossen zu haben. Das führt dann auch zu einer Akzeptanz bei der Linienführung durch diejenigen, die von Lärm betroffen sind. Hat dazu geführt, dass am Schluss alle (!) auf Rekurse an das Bundesgericht verzichtet haben.  
  • (Bei Flughafen Zürich nicht derart harmonisch, u.a. weil Identifikation eben nicht da ist – im Gegenteil zur Bahn)

 

  • Die ständige Auseinandersetzung mit der politischen Tagesordnung

ist denn auch der grosse Unterschied zur Politik mit Hilfe von Meinungsumfragen.
Meinungsumfragen sind etwas anderes als Abstimmungen (aus dem Bauch, nicht vorbereitet, sich nicht mit Zielkonflikten und Einwänden auseinandergesetzt, Opportunismus statt Eigenverantwortung).

Reformbedürftige Demokratie

Ist das nicht zu idealistisch betrachtet? Es gibt ja immerhin auch Einwände. Zu Recht:

  • Stimmbeteiligung? Wahlen weniger wichtig, wenn Referendum stets ergriffen werden kann. (Vgl. Aufregung um eine einzige Sitzverschiebung im BR)
  • Viele Gruppen ausgeschlossen: Einbürgerungspolitik der Schweiz: Muslime konnten nicht über Minarettinitiative abstimmen/ Frauenstimmrecht auch erst spät eingeführt.
  • Populismus: Minarettinitiative. Das sind diffuse Meinungsplebiszite, nicht über einen Sachgegenstand, sondern über eine allgemeine Haltung. Da wird der so genannte Wutbürger gepflegt und zwar durch finanzstarke Gruppierungen, die mithilfe von PR Profis auf der Klaviatur der Massenpsychologie zu spielen und zu verführen wissen.

Aber nicht ein Problem der direkten Demokratie. Auch bei Wahlen wird auf diesem Klavier gespielt.

  • Ein ähnliches Problem hat auch Kalifornien, das jetzt direkte Demokratie modifizieren will.
  • Schere im Kopf
  1.  
    1. Vorteil: Durch die Einführung des fakultativen Referendums gegen neue KKW war der spätere Ausstieg aus der Atomenergie bereits besiegelt. Opportunismus?

(Energiewende braucht auch Wendehälse.)

  1. Initiative Erbschaftssteuer: Hektische Übertragungen von Liegenschaften bis Ende 2011 durch Notare in der ganzen Schweiz, Ferien der Notare gestrichen, Geburten vorzeitig eingeleitet, damit noch rechtzeitig verschenkt werden kann (Angst vor Rückwirkungsklausel).
  2. Nachteil: Antizipation des Volksentscheides kann zu Opportunismus führen, was etwas ganz anderes ist. Bei mir selber gesehen: Erhöhung Anzahl BR. Das zeigt:

Gefahr der Erstarrung. Demokratie braucht aber auch Irritationen, neue Ideen, Auffrischung auch von aussen, so wie der damalige demokratische Geist des Aufbruchs hier am Bodensee:

  1. Alexander Spengler war ein Weggefährte und Kampfgenosse von Friedrich Hecker in der Märzrevolution. Er wurde in der Schweiz als politischer Flüchtling aufgenommen und wurde Lungenarzt in Davos und er war der erste Besitzer von Skis. Ihm hat Davos die Entwicklung als Kurort und damit auch die Wahl als Durchführungsort des wef zu verdanken. Auch der geht Spenglercup geht auf ihn bezw. seinen Sohn zurück.
  2. Heinrich Nestle gehörte ebenfalls zur Opposition und auch zum weiteren Umfeld von Hecker. Auch er flüchtete in die Schweiz, wechselte den Namen in Henri Nestlé und begründete eine Weltfirma.
  3. (Bleiben wir mal bei diesen Einwanderern; es gibt noch andere: Bührle und Blocher)
  • Spengler und Nestle setzten auch die Grundsteine, die heute Symbole für die Globalisierung sind: das WEF in Davos und Nestlé. Gerade die Globalisierung stellt die Demokratie sehr radikal in Frage:
  1. Ohnmacht gegenüber Globalisierung oder gegenwärtiger Krise: Griechenland beeinflusst uns, UBS beeinflusst uns, obwohl wir nie etwas dazu sagen konnten. Auch wir, die wir ja nicht in der EU sind. Warum sind wir so machtlos?
  2. Die Politik hat mit der Globalisierung nicht Schritt gehalten.
  3. Die Globalisierung ist demokratisch nicht legitimiert.

Demokratie gegen das Diktat der globalisierten Ökonomie

Das heisst für uns:

Erst recht: Auch diese Entscheide können und müssen demokratisiert werden. Die Stärkung der Staatengemeinschaft ist in diesem Sinne ein erster Schritt zur demokratischen Legitimation der Weltordnung, auch wenn damit noch nichts über die demokratischen Verhältnisse in den einzelnen Staaten gesagt ist.
Doch dieser Schritt, die interne Demokratisierung muss in allen Staaten vorangetrieben werden.
Unsere Gesellschaftsordnung setzt sich ja als Idee auch in anderen Kontinenten durch.
Es ist bis jetzt nicht zu einem Clash der Kulturen gekommen, sondern zu einer Angleichung, wie uns der arabische Frühling zeigt.
Inhaltlich sollen die Stimmbürger auch im internationalen Fragen mitentscheiden.
Ich wehre mich entschieden dagegen, dass die Stimmbürger in einzelnen Fragen als nicht mündig angesehen werden, auch wenn ich mit vielen Resultaten keineswegs einverstanden bin.
In welchen Fragen soll denn der Staatsbürger warum weniger kompetent sein als in anderen?
Hinter solchen Abgrenzungsversuchen steht immer wieder der grundsätzliche Zweifel an der Urteilfähigkeit der Stimmbürger.
Ich kenne diese Argumentationen noch von den Diskussionen über das Frauenstimmrecht: „Die Frau hat einfach zu viel Emotionen und Gefühle...“

(Wie froh war ich um die Frauenmehrheit im Bundesrat, mit der ich endlich das Sicherheitsprogramm für den Strassenverkehr durchsetzen konnte. (Vorher war einfach zu viel Verstand da...)
Internationale Kompetenz kann genau so erworben werden:

  • CH hat indirekt Ja zur EU Erweiterung gesagt und Ja zu UNO.
  • Volk hätte dem Euro nicht zugestimmt. Wäre da so falsch gewesen? Viele professionelle Politiker hätten sich vielleicht kommunikativ (und damit auch inhaltlich) intensiver mit der Frage auseinandersetzen müssen.

Gerade auch bei Fragen, die uns wegen der globalisierten Wirtschaft betreffen, können und müssen sich Parlament und Volk das letzte Wortvorbehalten:

  • Massnahmen gegen too big to fail
  • Bundestag setzte Bedingungen für Rettungsschirm und liess Regierung nicht allein machen (Verfassungsgericht hat das erwirkt), ähnliche Entscheide können aber bis zu Volksreferendum gezogen werden (Referendum kommt nicht von dumm; vox populi heisst nicht vox Rindvieh)

Angesichts der Krise müssen wir mehr und nicht weniger Demokratie einfordern.^
Hüten wir uns also davor, unser ganzes Denken der Wirtschaft unterzuordnen. Die viel geliebte Geschwindigkeit und Effizienz sind Werte der Wirtschaft.
Hier am Bodensee sagte mit ein früherer deutscher Bundespräsident:

„Euer System ist ein alter Hut; damit müssen Sie gelegentlich aufräumen“.
Auch bei uns werden Systeme in Asien bewundert: „Dort kann man ein Fussballstadion in einem Monat bauen, ohne dass sich die Nachbarn wegen dem Schattenwurf wehren können“.
Es gibt noch andere Werte als die Effizienz: Menschenrechte, Beteiligung, um Zufriedenheit, Glück.
(Nicht alle können in Konstanz leben: Stadtportrait Konstanz: Wer hier lebt, hat wirklich Glück.)
Glücksforschung: an den Geschicken des Staates beteiligt zu sein, verschafft Zufriedenheit, auch wenn dieses Recht nicht immer wahrgenommen wird.

Die Idee der Demokratie ist nicht ein alter Hut.
Die Idee der Demokratie ist der Heckerhut.