Die Gemüsefrau und die Politik - "L'homme politique et la marchande de Plainpalais ont-ils la même éthique?"
Moritz Leuenberger - Diskurs über Max Webers Rede zu Ethik und Politik. Vortragsreihe Ethik der Theologischen Fakultät Genf, 13. April 2011
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Ethik und Politik! Ist das nicht Widerspruch in sich selber?
Hier die hehre Tugend, das Gewissen zu schärfen - dort die schmutzige Fratze der Macht. Der Teufel und das Weihwasser. (Der Vergleich ist politisch nicht korrekt, ich spreche an der protestantischen Fakultät.)
Der Vergleich ist aber auch nicht logisch, denn wenn wir uns den Begriffen Ethos und Politik wertneutral nähern, sehen wir, dass jede tagespolitische Auseinandersetzung eine ethische Diskussion darstellt, auch wenn sie noch so grobschlächtig geführt wird. Nicht nur Diskussionen um Gentechnologie sind ethischer Natur, sondern auch solche um eine zweite Röhre am Gotthard, um ein drittes Geleise am Léman oder ob die Genfer Tramwagen als riesige SVP Werbung herumfahren sollen oder nicht. Welche Mobilität? Welche strafrechtlichen Sanktionen gegen Verkehrssünder? Ausschaffung krimineller Ausländer? Ob Drogen, Klima oder Bankgeheimnis, immer streiten alle politischen Antagonisten mit der tiefen Überzeugung, sie verträten den richtigen Standpunkt, immer im Reinen mit dem eigenen Gewissen.
Trotz aller Gegensätzlichkeit können sich politische Gegner durchaus auf gemeinsame Grundsätze einigen, innerhalb eine Partei auf ein Parteiprogramm, zwischen Parteien auf eine Koalitionsvereinbarung, alle Bürger und Bürgerinnen auf eine zu einer Verfassung. Diese Grundsätze aber im konkreten Einzelfall anzuwenden oder umzusetzen, führt zu heftigen Auseinandersetzungen. Der Teufel sitzt im Detail und da hilft dann oft kein Weihwasser mehr.
Deswegen droht, jede Abstraktion, jede Generalisierung konkreter Einzelfragen zur Unverbindlichkeit zu geraten, also auch eine Rede über Ethik und Politik.
Gesinnungsethik und Verantwortungsethik
Dass ich Ihrer Einladung trotzdem gefolgt bin, ist auf Max Weber zurückzuführen. Er und seine Gemüsefrau plagen mich, seit ich seine Rede „Politik als Beruf“ gelesen habe. Die wesentliche Passage lautet:
"Wie steht es denn aber mit der wirklichen Beziehung zwischen Ethik und Politik? Haben sie, wie man gelegentlich gesagt hat, gar nichts miteinander zu tun? Oder ist es umgekehrt richtig, dass ‚dieselbe’ Ethik für das politische Handeln wie für jedes andere gelte? Man hat zuweilen geglaubt, zwischen diesen beiden Behauptungen bestehe eine ausschliessliche Alternative; entweder die eine oder die andere sei richtig. Aber ist es denn wahr: dass für erotische und geschäftliche, familiäre und amtliche Beziehungen, für die Beziehungen zu Ehefrau, Gemüsefrau, Sohn, Konkurrenten, Freund, Angeklagten die inhaltlich gleichen Gebote von irgendeiner Ethik der Welt aufgestellt werden könnten? Sollte es wirklich für die ethischen Anforderungen an die Politik so gleichgültig sein, dass diese mit einem sehr spezifischen Mittel: Macht, hinter der Gewaltsamkeit steht, arbeitet?"
Die These, dass das ethische Verhalten der Gemüsefrau und das Verhalten des Politikers zu ihr ein anderes sein soll, als das ethische Verhalten in der Politik selber, kaue ich mit Unbehagen, seit ich sie gelesen habe. Sie liefert, das werfe ich ihm vor, den wissenschaftlichen Unterbau für das viel verbreitete Vorurteil, die Politik sei ein schmutziges Geschäft.
Der Zürcher Literaturprofessor Peter von Matt schreibt in seinem Buch „Die Intrige in der Literatur“ sogar, in der Politik müsse gelogen werden:
„Die Verantwortungsethik denkt an beides, an das sittliche Prinzip und an die Folgen. Sie weiss sich auch für die Folgen verantwortlich. Also muss sie die üblen Folgen der gesinnungsethischen Praxis verhindern. Also muss sie gegen die absolute Norm zum Beispiel der Bergpredigt verstossen. Also muss sie zurückhauen, statt die linke Backe hinzuhalten. Also muss sie – Weber sagt es nicht so krass, aber auf solche Krassheit läuft es hinaus – schlecht handeln um des guten Zweckes willen, muss lügen, ungerecht sein, Gesetze biegen und sich zielgerichtet verstellen.“
Muss ich als Politiker ein Lügner und ein Gesetzesbrecher sein? Und die Gemüsefrau sagt immer die Wahrheit?
Immer wieder versuchte ich, diese These als unberechtigtes Vorurteil zu widerlegen, zuletzt in meinem Buch über die Lüge in der Politik. Ich fürchte, es sei mir nie überzeugend gelungen. Ich versuche es heute erneut:
Zunächst unterscheidet Max Weber zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. In der Tat ist es die eine Sache, Grundsätze zu entwickeln, wie die Welt aussehen müsste und festzulegen, wie sich jedermann verhalten sollte, damit die Vision einer gerechten Gesellschaft erreicht werden kann. Es ist aber die andere Sache, diese Überzeugungen umzusetzen. Das eine ist die geistige Arbeit am Reissbrett der Philosophie, Kopfarbeit für eine ideale Welt, das andere ist die Auseinandersetzung mit der technischen oder politischen Realität, den Grenzen der Machbarkeit, verbunden mit dem Schmieden von Kompromissen, dem Kämpfen mit List und Taktik.
In der politischen Diskussion übernehmen die Kirche oder NGOs wie Greenpeace hauptsächlich die Rolle, eine Vision zu skizzieren, während der Berufspolitiker in einer Regierung, gefangen in den Zwängen der realen Machtverhältnisse, nur die Richtung idealer Vorstellungen einschlagen, diese aber nie erreichen kann.
Das sind verschiedene Rollen, beide sind notwendig, die Rolle der Mahner, die das öffentliche Gewissen stärken und diejenigen der Macher, welche versuchen, diese Erkenntnisse umzusetzen.
- Der Mahner sagt: Unsere Erde soll den Kindern so hinterlassen werden, wie wir sie angetroffen haben.
- Der Macher sagt: Um den Klimawandle zu stoppen, ist es notwendig, den CO2 Ausstoss um 40% zu reduzieren, aber ich kann unter den Mehrheitsverhältnissen in Regierung und Parlament nur ein Ziel von 20% im Gesetz festschreiben.
- Es steht als Gebot: Du sollst nicht töten.
- Daraus folgt der politische Macher:
- Ich muss verhindern, dass im Strassenverkehr Menschen getötet werden. Meine Vision sind Null Tote,
- doch kann ich mich diesem Ziel nur teilweise nähern. Das kann ich vor meinem Gewissen ethisch deswegen rechtfertigen, weil ich alles getan habe, um meinem Idealziel so nahe wie möglich zu kommen.
Schon nur aus diesem Beispiel sehen wir, dass die Rollen eben nicht scharf getrennt sind. Ein Visionär denkt auch an die Umsetzung und ein Macher hat auch seine Vision. Die Rollen vermischen sich in einer Institution oder in einer Person. Der Pfarrer ist auch Bürger und der Politiker ist auch Mitglied der Kirche.
Damit Arme und Arbeitslose Beschäftigung fänden, nahm Calvin vor 500 Jahren die Politik und die Wirtschaft in die Pflicht. Er erreichte einen Kredit der Stadt Genf zur Errichtung einer Tuch- und Samtfabrikation. Später übernahm die Uhrenindustrie diese Funktion. Inspiriert von Calvin tat Genf damals, was in Zeiten der Krise noch heute aktuell ist, es liess mit Konjunkturpaketen die Wirtschaft erblühen.
Das kann zu einer Machtkumulation führen und deswegen wird zuweilen wird auf eine Rollentrennung geachtet, so zum Beispiel in dem umstrittenen, in der Schweiz von Kanton zu Kanton verschieden geregelten Verhältnis zwischen Kirche und Staat:
Napoleon hat es geschafft, dass Sie hier in Genf eine totale Trennung von Kirche und Staat haben, während in den Innerschweizerkantonen die Trennung nur rudimentär ist. (Dafür ist immerhin das Frauenstimmrecht jetzt bereits in allen Kantonen eingeführt – welcher Fortschritt!)Zwischen Genf und der Innerschweiz gibt es zahlreiche Mischformen.Im Kanton Zürich gab es eine Volksabstimmung als Folge einer Volksinitiative der FDP, welche eine Trennung von Kirche und Staat zum Ziele hatte.
Ich war damals der zuständige Regierungsrat. Gleichzeitig bin ich Mitglied der Kirche.
- Als solches bin ich für eine Trennung, damit die Kirche wirklich unabhängig bleibt und sich wegen ihrer Vorteile (Pfarrerlöhne, Steuereintreibung) von klaren Stellungnahmen in öffentlichen Dingen scheut. Das ist meine Gesinnung.
- Nun war aber die Initiative der FDP exakt gegenteilig motiviert: Die Kirche sei zu unbotmässig, zu kritisch gegenüber dem Staat geworden. Aus diesen Gründen war ich als Politiker und Regierungsrat gegen die Initiative Stellung, weil ich nicht diejenigen Kräfte stärken wollte, welche der Kirche einen Maulkorb verpassen wollten. Unter den reale Zwängen wählte ich also eine Position, die in Widerspruch zu meiner Vision stand.
Ich habe mein persönliches Dilemma offen geschildert und liess die Stimmbürger so an meinem Gedankengang teilhaben.
Die Trennung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik kann gar nicht scharf gezogen werden kann. Jeder Mensch hat beide Rollen zu erfüllen. Wer sich nur auf die eine Rolle konzentrieren und von der anderen nichts wissen will, der entzieht sich der gesellschaftlichen Verantwortung.
Allein deswegen, weil die Gesinnung und die Umsetzung gar nicht von einander getrennt werden können, leuchtet mir eine Spaltung in zwei verschiedene Ethikbegriffe nicht ein. Die sittliche Maxime ist im einen und im anderen Falle dieselbe.
Begründen Macht und Gewaltmonopol eine besondere Ethik der Politik?
Max Weber begründet den Unterschied im Wesentlichen mit der Macht, mit welcher die Politik ausgestattet ist. Sie führe, ja zwinge dazu, im Interesse der Gemeinschaft Gewalt anzuwenden, weswegen der Staat das Gebot, du sollst nicht töten, nicht einhalten könne.
Zunächst: Macht hat nicht nur der Staat. Macht ist Einfluss. Macht übt jeder aus, im Geschäftsleben, im Privatleben.
Was die politische Macht, also die Macht, das Gemeinwesen zu gestalten, angeht, hat auch nicht nur der Politiker im engeren Sinne Zugang, also der Berufspolitiker, dem sich Weber in seiner Rede widmet. Die Medien, die NGOs die Kirche, jeder Einzelne hat Macht, nicht immer unbegrenzt, das hat niemand. Die Macht als solche kreiert keine eigene Ethik, allerdings verlangt sie ein geschärftes Verantwortungsbewusstsein. Das ist ein quantitatives Argument, kein qualitatives.
Sodann: Gewalt wird auch von Privaten ausgeübt. Sie sind in jeder Beziehung (ethisch, moralisch, rechtlich) dazu legitimiert: Denken wir an die Erziehung, an die Notwehr (sich selber zu verteidigen) oder an den Notstand (andere gegenüber einem Angreifer zu retten). Auch die Gemüsefrau hat Macht und Gewalt. Der Kanton und die Republik von Genf verdanken ihre ganze Existenz Madame Royaume und ihrem Gemüsetopf!
Die Gewalt ist dabei wiederum ein quantitatives und nicht ein qualitatives Kriterium. Gewiss, Strafrecht, Polizeirecht, Kriegsrecht verleihen eine ungeheuer grosse Macht und die Verantwortung wird immens. Deswegen gibt es institutionelle Vorkehrungen wie Gewaltenteilung, Rotation, etc.
Es leuchtet aber nicht ein, dass die Menschen in den Institutionen, welche die Grundsätze umsetzen, also der Polizist oder der Bundesanwalt, eine andere Ethik anwenden sollen, als jene, die eben diese Grundsätze formulierten, als der Parlamentarier oder der Rechtsprofessor.
Wir sehen das noch deutlicher, wenn wir versuchen, die Ethik in der Demokratie qualitativ zu umschreiben.
Eine Triangulation zur Lösung politischer Zielkonflikte
Ich erlaube mir, zu einem abstrakten Hilfsmittel zu greifen, das mir schon oft half, Gedanken zu ordnen, dem ethischen Dreieck der Demokratie.
Ich begegnete diesem Dreieck in einer Rede „Ethique et Démocratie“ von Michel Rocard, die er hier in Genf vor 15 Jahren anlässlich der Eröffnung des Institut romand d’éthique (des Facultés de théologie protestante de Suisse romande), IRE, gehalten hat. Er berief sich auf Paul Ricoeur und ich habe das Gefühl, dieser sei von Sigmund Freud inspiriert gewesen (kein Plagiat, nicht dass er etwas abgeschrieben hätte – er war nie Minister).
- Es gibt einen ersten Pol, das „Ich“, meine Freiheit. Das neugeborene Kind kennt zunächst nur seine eigenen Bedürfnisse und richtet all sein Handeln ausschliesslich nach diesen aus. (J. Dutronc: Sept cent Millions es Chinois, et moi, et moi, e moi!)
- Die grenzenlose Freiheit zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse gibt es jedoch für keinen Menschen. Das Kleinkind richtet seine Stillstunden schon bald auch nach der Mutter, auf welche es angewiesen ist. Jeder stösst an Grenzen, auf die Bedürfnisse eines andern, der Eltern, der Ehefrau, des Nachbarn. Er muss seine eigenen Ansprüche eindämmen, möchte sie aber doch so weit als möglich entfalten und absichern. Er entdeckt so den zweiten Pol, das „Du“: Er muss sich mit seinem Gegenüber einigen. In einem Arrangement, in einem Vertrag garantiert er gleichzeitig sich und seinem Gegenüber, sich innerhalb vereinbarter Grenzen nach den eigenen Bedürfnissen entfalten zu können.
- Doch auch die beiden Nachbarn leben nicht allein in der Welt. Sie sind abhängig von Dritten, von anderen Menschen, von Institutionen, von der Natur. Bloss mit ihrem Vertrag überleben die Partner nicht. Es müssen Normen und Regeln geschaffen werden, die auch für Dritte gelten. Der dritte Pol ist das „Er, sie es“, andere, auch nicht individuell bestimmte Menschen oder Sachen, also die Konsumenten, die Arbeitgeber, die Flüchtlinge, die Nachkommen, die Umwelt. Diese werden sowohl in die Pflicht genommen als auch geschützt.
Zwischen diesen drei Polen spielt sich das politische Geschehen und die Diskussionen darüber ab, was Böse und was Gut ist.Zwei Bemerkungen:Erstens wäre es falsch zu meinen, nur in der Politik käme der dritte Pol zum Zug. Auch die Organisation eines Vereins oder die Benutzung der Waschküche, die Erziehung von Kindern ist mit generellen Regeln verbunden. Auch der einzelne Mensch denkt an den dritten Pol und verhält sich zugunsten der Umwelt nachhaltig. Die Gemüsefrau vom Plainpalais bestellt ihr Gemüsebeet, so dass es auch ihre Tochter noch nutzen kann.Zweitens wäre es ein Irrtum, die ersten beiden Pole als minderwertig abzutun, als ein- oder zweidimensional anzuschauen.
Erst recht wäre es falsch zu glauben, die Politik kreise weitsichtig immer nur um den dritten Pol. Auch das Ich und das Du sind legitime Bestandteile des politischen Ethos’. Die politische Diskussion benötigt alle drei Pole, um ihre Zielkonflikte lösen zu können:
„Ich!“: Die politische Legitimation des Egoismus
Nicht nur das Kleinkind denkt zunächst mal an den ersten Pol. Das Ich, das eigene Interesse spinnt den ethischen Leitfaden, in den eigenen vier Wänden, im Beruf und im öffentlichen Leben. Ein Vertrag wird zur maximalen Absicherung der eigenen Bedürfnisse formuliert. Der Gemüsefrau vom Plainpalais bezahle ich den höheren Preis als der Migros nicht aus Mitleid, sondern weil sie mir frischere Ware bietet, weil sie freundlich zu mir ist oder weil es mir auf dem Markt wohler ist, als im Selbstbedienungsladen in der Schlange vor der Kasse zu stehen und mich dann nach der Cumuluskarte fragen zu lassen. Und umgekehrt versteckt die Gemüsefrau vom Plainpalais in ihrem eigenen Interesse keine angeschimmelten Erdbeeren im Körbchen, damit ich nächsten Samstag wieder an ihren Stand komme. Beide denken wir an uns selber.
Das ist in der Politik nicht anders.Zunächst sehr unmittelbar: Im Grunde genommen hat sich das Wesen der Politik als eines Marktes der ständischen Interessenvertretung, wie sie Max Weber in der berühmten Rede ausführlich schildert, kaum verändert. Die Bauern, die Bergkantone, die Industrie, der Mittelstand, die Gewerkschaften, die Umweltverbände, sie alle kämpfen für die eigenen Interessen, um Subventionen, soziale Sicherheit, Wettbewerbsvorteile, für die eigene Gesundheit, für das eigene Wohlbefinden in der Natur.Auch die mittelbare politische Diskussion, zum Beispiel um Nachhaltigkeit folgt durchaus egoistischen Argumenten: „Die Förderung erneuerbarer Energien erlaubt technische Innovation und Chancen auf dem Exportmarkt.“ „Entwicklungshilfe verhindert Flüchtlinge, die sonst wegen Armut, Umweltschäden oder Krieg zu uns kommen.“ Das sind Begründungen, die an das Ich appellieren. Für den Einsatz zugunsten der Armen oder Obdachlosen habe ich zudem das Entgelt, ein Wohltäter zu sein, öffentlich oder auch nur vor mir selber.
Wir sind soziale Wesen, wir helfen, nehmen spontan Verantwortung für andere wahr. Der selbstbezogene Antrieb kann ebenso Gutes hervorbringen wie der Altruismus Schlechtes bewirken kann.
Die politische Diskussion über Gut und Böse ist auch an der Wirkung und nicht bloss an der Absicht zu führen. Was bringt es, in psychologische Tiefen anderer dringen zu wollen? Solch inquisitorische Gesinnungsforschung kann zu Gesinnungsterror führen und zu so läppischen Aussagen wie: „Er oder sie ist nicht richtig sozialistisch“. Das führt zu Ideologisierung der Politik, zu Glaubensbekenntnissen und schliesslich zu Glaubenskriegen.
„Du“: Die politische Kraft des barmherzigen Samariters
Einige Gedanken zum zweiten Pol: Das private Verhalten zum Du, zu meinem Mitmenschen ist von grosser politischer Sprengkraft.Statt private Gewalt als Nährboden für Kriege zu thematisieren, weise ich auf eine andere Dimension und widme mich kurz dem barmherzigen Samariter:"Es war ein Mensch, der fiel unter die Räuber, die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und liessen ihn halb tot liegen. Ein Samariter, der auf der Reise war, kam daher und wie er ihn sah, jammerte er ihn.Und er ging zu ihm, goss Oel und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.Der barmherzige Samariter hat einem halb toten Menschen das Leben gerettet und sorgte für seine Genesung, sonst wäre er gestorben. Das ist eine soziale Tat von politischer Dimension. Es gibt keine soziale Ordnung ohne dieses Engagement einzelner Menschen. Die politische Dimension ist jedoch grösser, denn es gibt auch mittelbare Folgen. Wir alle wissen: "Wer heute Böses leidet, wird morgen Böses tun." Wie sich diese Wahrheit über Jahrtausende perpetuiert, erleben wir im Nahen Osten. "Wer heute Gutes erlebt, kann morgen Gutes tun." Das ist die Umkehr dieser Regel.
Deswegen forderte Jesus: "So gehe hin und tue desgleichen."
Er, sie, es: Systemische Politik
Das führt direkt zum dritten Pol, der mir als Berufspolitiker am nächsten liegt: Wir wollen, dass allen, die es nötig haben, geholfen wird, und wir wollen, dass es keine Räuber gibt, die jemanden halb oder ganz tot schlagen. Dass es keine Menschen gibt, die, obwohl sie arbeiten, nicht genug zum Leben haben. Das muss geplant und organisiert werden.Dieser dritte Pol ist für die Gestaltung eines Gemeinwesens unabdingbar.Deswegen erlassen wir Gesetze über Fürsorge, Vorsorge, Sozialversicherungen, Krankenversicherungen oder das Opferhilfegesetz, das sich unter anderem um "zusammengeschlagene, halb tote Opfer" kümmert. Der Staat erlässt Normen, damit es keine Räuber gibt: Gleichheit, Umverteilung, Verhinderung von Armut, damit niemand zum Räuber werden muss. Schon Calvin ging gegen Armut, Hunger und Bettelei vor, indem er die wirtschaftlichen und moralischen Ursachen bekämpfte und allen Erziehung und Arbeit ermöglichen wollte.Der Staat erlässt Vorschriften, um die Erde auch zünftigen Generationen zu erhalten. Das ist komplex und deswegen wenden sich viele Medien lieber wieder dem ersten Pol zu:
Die mediale Personalisierung droht, politischen Probleme auf das individuelle Verhalten der gesellschaftlichen Exponenten zu reduzieren: Statt über die systemischen Massnahmen zur Reduktion des CO2 Ausstosses zu diskutieren, wird gefragt: „Was tun Sie persönlich für den Umweltschutz?“ Als ob die Klimaerwärmung gestoppt würde, wenn der Umweltminister Velo fahren würde.
- Gewiss, es würde genügen, wenn alle Menschen sich so verhalten würden, dass die Interessen aller gewahrt würden, auch diejenigen der Nachfahren, das heisst auch der Umwelt und der Natur. Pfarrer Jeremias Gotthelf predigte ein solches Verhalten. Das Ideal einer Gesellschaft besteht zweifellos darin, dass es sich jeder Mensch so verhält, dass die Gesellschaft eine friedliche, gerecht und gleiche ist. Dazu bräuchte es nicht einmal moralische Normen. Doch Religionen beherrschen die real existierende Welt nicht.
- Es braucht Normen. Das sind moralische Normen, also Gebote, etwas zu tun oder zu unterlassen, und weil sich an sie nicht alle halten, braucht es auch
- staatliche Gesetze, Vorschriften und Verbote, deren Übertretung mit Strafe geahndet wird. Es werden zunächst abstrakte Werte formuliert wie Freiheit, Solidarität oder Nachhaltigkeit, denen die Menschen nachleben sollen. Von diesen Werten und Überzeugungen werden die konkreten Regeln abgeleitet, an die sich die Menschen zu halten haben.
Die ethischen Fragen, die sich stellen, wenn sie erlassen werden, sind komplexer als diejenigen von zwei Partnern, die je ihre eigenen Interessen absichern, aber sie sind in der Qualität nicht anders. Die Interaktion, die Überlappung der drei Pole zeigt auch, dass nicht von verschiedener Ethik gesprochen werden kann.
Wort, Antwort, Verantwortung
Wir können die drei Pole, das „Ich“, das „du“ und „er/sie/es“ auch an einer anderen sprachlichen Entwicklung verfolgen, an den Wörtern Wort, Antwort, und Verantwortung.
1. Es gibt die erste Dimension, das Wort.
„Am Anfang war das Wort.“ Das Wort bewirkt, es hat Macht. Worte sind Ausdruck komplexer Gedankengänge oder Überzeugungen: „Am Anfang war das Wort.“ Das heisst: Das Wort ist die Quelle der Sinngebung unserer Welt. „Das Wort“ bedeutet unsere Fähigkeit, Zusammenhänge zu verstehen, abstrakt zu denken und uns in Begriffen zu äussern.
Worte sind das Berufswerkzeug von Kultur, Politik und Medien. Manifeste, Streitschriften, Romane, Kolumnen haben die Welt, die kleine und die grosse, bewegt.
Die Zehn Gebote, Luthers Thesen, die Erklärung der Menschenrechte, das sind Worte, welche die Welt veränderten.
Nicht jede Veränderung ist von allen gewünscht. Deswegen können Worte ins Gefängnis führen, was Galileo Galilei, Vaclav Havel oder Nelson Mandela widerfuhr.
2. Die zweite Dimension, die Antwort
Damit das Wort mit seiner Macht nicht zur Willkür verkommt, braucht es das Gegenwort, das Anti - wort. Wer redet, muss die Gegenrede hören.Ein Journalist, der eine Geschichte nicht zu Ende recherchiert und seine Thesen nicht verifiziert aus Angst, „die Story könnte sonst sterben“, der lässt keine Antwort zu.
Die Gegenrede zu organisieren ist ein Mittel gegen Willkür. Es ist die Kontrolle der Macht, was auch schon wieder aus dem Wort selber hervorgeht: Kontrolle heisst „Kontra Rolle“, also Gegenrolle. Das Parlament ist die Kontrolle der Regierung und umgekehrt. Die Mitarbeiter eines Bundesrates sollten, das ist meine Meinung, in erster Linie angestellt werden, damit sie ihm Gegenwort bieten können. Früher haben Bundesräte persönliche Mitarbeiter bewusst aus anderen Parteien bestellt. Heute ist es durchwegs die eigene Partei, das stärkt die parteiliche Einseitigkeit und führt zu einer Ideologisierung.
3. Die dritte Dimension, die Verantwortung
Nun kann ich nicht in jedem Falle eine Gegenrede, eine Antwort bestellen. Die künftige Generation kann ich nicht dazu befragen, was sie von einem nuklearen Endlager hält. Mit den vom Aussterben bedrohten Spinnen im Amazonas kann ich auch nicht über Biodiversität diskutieren. Ich brauche aber für meine politische Arbeit auch eine Antwort von demjenigen, der sich gar nicht direkt an mich wenden kann. Ich muss mir also seine Frage vorstellen und ich muss sie ihm beantworten. Was würden wir einer künftigen Generation antworten, wenn sie uns fragen könnte, was wir gegen das Ozonloch taten? Wie rechtfertigen wir folgende Argumentation zugunsten neuer KKWs: „Ein Superunfall ereignet sich statistisch gesehen nur alle dreitausend Jahre.“ Angenommen, das geschieht tatsächlich erst in dreitausend Jahren und nicht schon morgen, was nämlich auch möglich ist, wie wir in Japan sehen, welches Recht haben wir gegenüber der künftigen Generation, einen Unfall in dreitausend Jahren weniger schlimm zu finden als ein Unfall heute?
Dieser innere Dialog bedeutet, das eigene Gewissen zu befragen und ihm, das heisst einem imaginären Vertreter einer späteren Generation oder auch einem Richter, einer PUK, einem Gott, den wir uns als Richter vorstellen, zu antworten. Das ist die dritte Dimension von Wort und Antwort, die Ver-ant-wortung. Dies ist der Sinn der Verantwortung: Das Gewissen zu befragen und ihm eine Antwort geben zu können. Verantwortung bedeutet die Schärfung des Gewissens.
Die Ethik des Citoyen
Um ihre These zu belegen, verweist Weber auf die Bergpredigt, welche in der Politik gar nicht umgesetzt werden könne. Diese Argumentation ist verkürzt, weil sie ausblendet, dass die Bergpredigt auch im zivilen Beruf und im Privatleben nicht umgesetzt werden kann. Es müsste also nicht nur die real existierende Politik, sondern auch das real existierende Verhältnis der Menschen untereinander zum Kriterium der Ethik werden.Das soll nicht eine Resignation sein. Die Bergpredigt soll uns allen, wo immer wir uns entfalten als imperative Richtschnur dienen.
„Du sollst nicht töten“: bedeutet mehr als nur von Mord absehen, es verpflichtet auch, die Sicherheit der Infrastrukturen oder das Gesundheitswesen so zu organisieren, dass möglichst wenig Menschen sterben.
„Liebe deine Feinde wie dich selbst“: In jeder Aussage, auch der des erbittertsten Gegners, das Körnchen Wahrheit suchen, das sich gewiss finden lässt.
„Du sollst nicht lügen.“ Selbstverständlich gilt das in der Politik genauso so wie in jedem anderen Bereich.
Wir sind alle Citoyens. Unsere gemeinsame Ethik besteht darin, sich für das Gemeinwesen einzusetzen.
„Schau nicht, was der Staat für dich tun kann, sondern was du für den Staat tun kannst“. Diese Ethik war der Gehalt von Gandhis Aufruf: „Be the change you want to see in the world“. Darin steckt der tiefe Glaube, wonach das private zugleich das öffentliche Verhalten sein soll.
Die Demokratie erwartet von allen, dass sie die Gesellschaft mit gestalten:
"Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei."
Das hält die Schweizerische Bundesverfassung fest. Der Citoyen, so schwebte der Aufklärung vor, gestaltet den Staat. Das ist kein Diktat, sondern ein Credo: Der Mensch ist ein soziales Wesen, das sich gerne für andere und für die Gemeinschaft einsetzt. Die Menschen wollen Verantwortung übernehmen und tragen. Das beinhaltet auch die Tugend, sich die Hände zu beschmutzen, sich nicht davor zu scheuen, dass einmal etwas nicht gelingt, dass vielleicht etwas falsch gerät.
Dieser Wille und dieser Mut werden zuweilen gedämpft, wenn wir in der Welt Terror, Elend, Bomben sehen. Dann macht sich Hoffnungslosigkeit breit und viele fühlen sich machtlos. Mancher möchte am liebsten aussteigen oder, wie Dostojewskis Iwan Karamasow gestand, "dem lieben Gott die Eintrittskarte zurückgeben". Wie verständlich ist da die Abkehr, das Wegschauen. Wer wegschaut, will die unangenehme Wahrheit nicht wahrhaben, unternimmt nichts gegen sie und verfestigt sie so. Auch wegschauen kann zur Lüge verkommen.
Doch ich beobachte immer wieder Menschen, die nicht wegschauen, nicht bei einem gefährlichen Unfall, nicht bei Unrecht, das sie sehen, nicht bei einer ungerechten Gesetzesregelung, die sie nicht verstehen können. Sie hoffen und setzen sich für ihre Hoffnung ein. Sie stellen sich den Herausforderungen, sie verfallen nicht dem Pessimismus, begnügen sich aber auch nicht damit, einfach optimistisch dem Lauf der Dinge zu vertrauen, sondern sie arbeiten für ihre eigene Hoffnung, indem sie beherzten Mut zeigen. Kein Staat könnte ohne diesen Einsatz überhaupt bestehen, ökonomisch nicht und moralisch nicht.
Denn wenn sich die Bürger nicht einmischen würden, wenn sie wegschauen würden, würden sie das eigene Gewissen belügen. Sie alle sind Politiker und Politikerinnen und folgen denselben ethischen Grundsätzen. Ob sie nun in einer Regierung wirken oder als Gemüsefrau vor dem Plainpalais.