Navigation ausblenden

Unsere Werte, unsere Bundesverfassung


Kleine Laudatio für die grosse Constitutio

Zur Eröffnung von Dominic Büttners Projekt, in welchem die gesamte Schweizerische Bundesverfassung, Artikel für Artikel, von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren in Videos dargeboten wird

Nachzusehen auf: https://www.youtube.com/channel/UC_Litf6UI0pjimf4kGpso3A

Zürich, 23.02.23

 

Seit einem Jahr, dem Angriff Russlands auf die Ukraine, wird viel von unseren Grundwerten gesprochen, die es zu verteidigen gilt. Diese Grundwerte werden nicht nur in Frage gestellt, sondern ganz direkt angegriffen und brutal verletzt.

Es wird die Wertegemeinschaft des demokratischen Westens beschworen. 

Dazu gibt es Nachfragen:

„Was sind denn eigentlich unsere Werte?“ lasen wir mehrfach in unseren Zeitungen. 

Die Frage ist berechtigt und sie ist nötig.

Antworten wie „Menschenwürde, Freiheit oder Demokratie“ sind zwar nicht falsch. Aber sie genügen nicht. Sie sind zu abstrakt. 

Jede und jeder kann darunter verstehen, was sie oder er will. Alle können sie in Anspruch nehmen. Für das tägliche Zusammenleben und die Gestaltung unserer Gemeinschaft bleiben sie deswegen untauglich. 

Was sind unsere Grundwerte? Das lässt sich weder auf Twitter komprimieren noch mit einem Multiple-Choice-Verfahren eruieren. 

 

In der Bundesverfassung sind unsere Grundwerte festgehalten

 

-       Zunächst ebenfalls abstrakt in der Präambel und in der Aufzählung der Freiheitsrechte.

-       Dann aber sehr konkret:

  • Genaue Prozentzahlen für die direkte Bundessteuer, die Mehrwertsteuer, 
  • Für die Schwerverkehrsabgabe und anderes mehr.

 

Die BV ist der oberste Kodex unseres Rechtsstaats und unseres zivilen Rechtssystems. 

Auf sie beruft sich, wer zu seinen Rechten kommen will. 

Aber die BV ist kein grosser Köcher für juristische Pfeile. Sie ist nicht einfach eine Ansammlung von Paragrafen, auf die man sich in Rechtsverfahren berufen kann. 

 

Die BV bringt die Grundsätze, wie wir zusammenleben wollen und sollen, wie wir den Staat gestalten, wie wir ihn organisieren zum Ausdruck. 

Das alles ist in langen und zähen politischen Diskussionen erarbeitet worden, kontrovers, aber immer mit dem Willen zur Einigung. Die Verfassung wurde erlassen durch das Volk und die Stände, also von uns allen.

Die BV richtet sich an uns alle:

zum Beispiel

-       Art. 6 «Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zu Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.» 

-       In der Präambel: «Frei ist nur, wer seine Freiheit gebraucht.» 

  • Beide Grundsätze spielten während Corona eine Rolle: Verantwortung für sich und andere wahrnehmen und nicht einfach nur auf Anordnungen aus Bern warten. 
  • Beide Grundsätze sind für unsere Umweltpolitik wichtig. 
  • Beide sind sie für den Erhalt unserer Demokratie unabdingbar.

 

Die BV richtet sich an unsere Regierungen und Verwaltungsbehörden:

zum Beispiel

-       Art. 5: «Staatliche Organe (und Private) handeln nach Treu und Glauben.»

-       Art. 33: «Jede Person hat das Recht, Petitionen an die Behörde zu richten.»

  • An beides halten sich Behörden dann nicht, wenn sie auf Anliegen aus der Bevölkerung gar nicht erst eingehen (wenn Anwohner auf eine gefährliche Strassenanlage aufmerksam machen). 
  • Oder wenn die Behörden ihre Information bewusst und ausgeklügelt so terminieren, dass sich die Betroffenen nicht mehr wehren können, obwohl sie das Recht dazu haben. 
  • Oder wenn eine Amtsstelle tagelang das Telefon nicht abnimmt und trotz Nachricht nicht zurückruft oder wenn sie schlicht eine Auskunft verweigert. 

Das sind alles krasse Verletzungen der BV. 

 

Die BV weist den Weg, wie wir unsere Willensnation gestalten sollen

Zum Beispiel

-       In der Präambel steht: «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.» Das ist nicht einfach eine linke Sozialklausel. 

  • Das heisst: eine Gesellschaft wird nie stark, wenn sie nicht alle mitzieht. 
  • Das heisst: Eine Lebenseinstellung darf sich nicht darin erschöpfen, die eigenen Wünsche zu erfüllen. Nicht: «Mach, was für dich stimmt!» 

-       Und: Auch als Gemeinschaft, so unsere BV, sollen wir nicht der Hybris verfallen, sondern uns einer höheren Moral, (nicht einer weltlichen Macht!) unterordnen. Das kommt gleich als erstes Bekenntnis in der Präambel zum Ausdruck. 

 

Vor zwei Wochen hielt Roberto Begnini am Festival von San Remo eine engagierte und begeisternde Eröffnungsrede, in welcher er die italienische Verfassung zum Thema erkor: 

«Wir sollen die Verfassung nicht nur achten, wir sollen sie lieben», sagte er.

Die Frage ist, was wir unter „Lieben“ verstehen. Er meint natürlich nicht, dass wir LSBTTIQ auch noch mit der Liebe zur BV ergänzen sollen. 

Was er meint und womit ich mit ihm einverstanden bin: 

Die Verfassung spiegelt die Seele einer Wertegemeinschaft. Die Verfassung muss gelebt werden. 

Wir wollen uns mit ihr auseinandersetzen. Das gehört auch zu einer Liebe. 

Wir wollen sie verändern, denn es ändern sich auch unsere gesellschaftlichen Überzeugungen und politischen Haltungen. 

Die BV ist keine Bundeslade, von einem Gott diktiert und in Stein gemeisselt. Sie ist stetiger Veränderung unterworfen. Zum Glück:  Die Niederlassungsfreiheit auch für Juden, das Frauenstimmrecht, der Proporz: das alles war lange nicht in der Verfassung.

 

Am Anfang war das Wort. 

Das Projekt Constitutio gibt dem geschriebenen Wort Stimme. Viele Stimmen, von Betroffenen, von Menschen in der engeren Verantwortung. Constitutio ist ein Kunstwerk, an dem wir nun alle teilhaben können.  

Es hat sich schon immer gelohnt, die Verfassung zu lesen. Sie zu hören und die Interpretinnen und Interpreten zu sehen, zeigt uns neue Zusammenhänge auf. 

 

Wie die BV selber wird sich auch das Projekt Constitutio verändern. 

Es werden zuerst alle Sprachregionen berücksichtigt, wie es dem Geist der BV entspricht.

Einzelne Vorträge werden vielleicht neu aufgenommen mit neuen Interpretationen. 

Vielleicht ist es der Anstoss zu einer neuen Verfassungsinitiative. 

Wie auch immer: Ich gratuliere dem Projekt zur Geburt und wünsche ihm ein langes bewegtes Leben, wie es auch unsere Bundesverfassung hinter und vor sich hat.