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Reden 2023


Der digitale Einfluss auf die Kultur / Redeversion

Eröffnungsrede der 10. Internationalen Konferenz des Netzwerks Technikfolgen Abschätzung (NTA)

Bern, 14. November 2022. Moritz Leuenberger

 

Willkommen in der Bundesstadt der Schweiz, 

Bern wählten wir für unsere Tagung nicht wegen seiner politischen Bedeutung, sondern weil Berns Altstadt ein UNESCO Weltkulturerbe darstellt und wir unseren Diskussionen über Kultur einen würdigen Hort bieten wollten. 

Es gibt zwar noch andere Weltkulturerben in der Schweiz, 

-       zum Beispiel die drei Burgen von Bellinzona. Von ihnen wurde gegen die Herzoge von Mailand gekämpft. Dort zu tagen, könnte von einigen Gästen aus der EU falsch verstanden werden. 

-       Ein anderes Kulturerbe sind die Weinberge im Lavaux am Genfersee. Wir befürchteten, die dortigen Degustationen könnten der Seriosität unserer Arbeit abträglich sein.

Die Fragen um Digitalisierung und Kultur harren aber einer nüchternen und seriösen Abklärung.

Deshalb haben wir Sie nach Bern eingeladen.

***

Kultur und Technologie

 

Ich wirkte hier viele Jahre im Bundeshaus und beschwor an kulturellen Anlässen immer wieder: 

«Es ist die Kultur, welche die Welt verändert.» 

Als Infrastrukturminister, verantwortlich für Tunnel und Hochspannungsleitungen, wählte ich gewaltige Worte, wie 

«Kultur ist die wichtigste Infrastruktur einer Gesellschaft.» 

Der Applaus war mir sicher. 

Heute muss ich mich fragen, ob diese Anbiederung an das Kulturpublikum, das solche Worte stets hören will, nicht eine Art billiger Kulturpopulismus war. Denn: 

 

Verändert Kultur tatsächlich eine Gesellschaft? 

Ist sie nicht immer auf Technologien angewiesen,

-       auf Theaterbühnen, 

-       auf Museen, 

-       auf digitale Plattformen? 

Erst diese kommunikativen Transmissionsriemen vermögen kulturelle Anliegen zu verbreiten. Sie sind die Prothesen unserer Sinnesorgane und verhelfen zu einer grösseren Reichweite.

Ohne diese Technologien vermöchten sich kulturelle Ideen kaum durchzusetzen. 

Es sind Kultur und Technik, die zusammen, unter wechselseitigem Einfluss, je aufeinander, eine Gesellschaft verändern. 

Mir scheint, der Technik komme die dominierende Rolle für jeden gesellschaftlichen Wandel zu. 

 

Wir können das an geschichtlichen Beispielen beobachten: 

-       Die Technologie des Buchdrucks förderte, ja ermöglichte weltliche Universitäten und die Aufklärung. 

-       Eisenbahn, Automobil, Telekommunikation beschleunigten das ewige menschliche Streben, sich physisch oder virtuell zu bewegen.

-       Die Gentechnologie erleichtert den tief verwurzelten Wunsch, uns und unser Erbgut fortzupflanzen.

 

Digitalisierung

 

Die treibende Technologie unserer Zeit ist die Digitalisierung. 

Ihre Kinder heissen Internet, Smartphon und soziale Medien. 

Diese digitale Familie prägt und verändert unser Denken, unser Fühlen, unser Verhalten, mit anderen Worten, 

sie prägt unsere Kultur. 

 

Bedeutet diese Veränderung mehr als die übliche kontinuierliche kulturelle Entwicklung über die Jahrtausende oder handelt es sich um einen fundamentalen Qualitätssprung?

 

Schafft der digitale Wandel in der Kultur

-       (erstens) tatsächlich völlig neue und andere Produkte?  

-       Schafft er (zweitens) neben neuen Produktionsformen auch andere Inhalte auf den Bühnen von Musik, Film oder Theater?

-       Und (drittens): Konditioniert er auch die Rezeption von Kultur neu? Schafft er ein neues Kulturpublikum?

 

Neue digitale Kulturprodukte

 

Wir werden uns in den kommenden Veranstaltungen unter anderem über virtuelle Kunstwerke, über NFT im Detail unterhalten. 

Für viele, ich gehöre dazu, ist es unverständlich, dass in einem Metauniversum 

-       virtuelle Häuser in virtuellen Städten, 

-       virtuelle Kleider und 

-       virtuelle Kunstwerke 

zu schwindelerregenden Preisen erworben werden. Real können sie aber berührt oder gar an einer Wand aufgehängt werden.  

Ist das wirklich ein neues und anderes Phänomen? 

-       Wurden in einem Kunstwerk (oder einer Reliquie) nicht schon in analogen Zeiten überwirkliche, virtuelle Kräfte gesehen und wurde das Werk gerade deshalb begehrt und wertvoll? 

-       Erhielt es nicht dadurch eine Bedeutung, die keiner real errechenbaren Wirklichkeit entsprach, sondern nur einer Eigenschaft, welche sich die Menschen in ihren Hirnen und Herzen vorstellten und woran sie glaubten?

-       Diese Vorstelllungen konnten religiös oder mythisch begründet sein. Sie erreichten zuweilen eine eschatologische Überhöhung, die dann eine ökonomische Wertsteigerung zur Folge hatte. 

-       Ein Schuh von Michael Jackson, ein Rock von Marilyn Monroe, ein Racket von Roger Federer.

-       Die Autonummer «ZH 100», für die letzte Woche Fr. 226'000 bezahlt wurden.

-       Die Preise der Bilder von Prinz Charles vervielfachten sich, nachdem er König wurde, obwohl es ja dieselben Bilder sind, wie sie es vorher waren. 

Genau gerechnet verdreifachten sie sich, vielleicht, weil er nun Charles III. ist. 

 

Gewiss, das Internet, die sozialen Medien potenzieren solche Entwicklungen bis ins Absurde. Sie verlagern die Objekte der Begierde in einen virtuellen Kunstkeller oder Kunsthimmel. Der gewöhnlich Sterbende bezahlt für seinen Glauben ein Vermögen, und zwar ein reales. 

Aber ist das etwas qualitativ Neues, ein Aliud? Ist es im Grundsatz nicht auch schon dagewesen? Hat es nicht alle kulturelle Entwicklungen, in allen Kulturen der Welt begleitet und geprägt?

 

Sie werden in Ihren Diskussionen die Antwort finden.

 

Neue Wege, Kultur zu schaffen

 

Digitalisierung hat seit Jahren zu vielen neuen Wegen geführt, Kultur zu schaffen. Es geht dabei um mehr als um Obertitel im Opernhaus, Headsets oder um bühnentechnische Experimente mit mehrstöckigen, drehbaren Ebenen, die in einem Theater oft mehr bewundert werden als der Inhalt des Stückes. 

 

Corona hat das Suchen nach neuen Wegen beschleunigt. 

-       Die letzte Zusammenkunft von NTA in Wien 

(per se ein kultureller Anlass, schon wegen des genius loci) 

fand per Zoom statt. 

Zum, ersten Mal habe ich dort 

  • virtuelle Pausengespräche geführt und 
  • virtuell Kaffee getrunken und 
  • virtuellen Kaiserschmarren gegessen, 
  • total kalorienfrei
  • Merke: ein Vorteil der Technologie Zoom: 

Gesunde Ernährung!

-       Oder: In der Oper Zürich wurden während Corona Chor und Orchester geographisch um einige Kilometer vom Opernhaus weg versetzt und per Glasfaser in den Saal mit dem Publikum übertragen. Auf der Bühne sangen nur mehr die Sängerinnen und Sänger. 

Das wurde zwar scharf angegriffen und als Totenglocke der Oper als einem Gesamtkunstwerk angeprangert.

Gegenfrage: Wäre es denn besser gewesen, vor Corona zu kapitulieren? 

Die Metropolitan in NY schloss für ein Jahr vollständig und verunmöglichte so, dass die Operngemeinschaft zusammenfinden konnte. 

 

Dank einer Technologie wurde so immerhin das Zusammentreffen von Künstlern und Publikum ermöglicht. 

Und genau dies ist ja eine der Bedeutungen von Kultur: 

Eine Gemeinschaft zusammen zu halten, ihr auch unter erschwerten Umständen Diversität, die Kontroverse, den gedanklichen Austausch ermöglichen. 

 

Neue Bedingungen für Kulturschaffende

 

Auch hier hat Corona einiges vorgezeichnet:

 

Für Künstlerinnen der Kleinbühnen wurde der Gang in die virtuelle Szene beschleunigt. Parallel dazu entleerten sich die analogen Bühnen. 

Dies erfolgt deswegen umso schneller, weil Agenturen von ihren Künstlern die virtuelle Präsenz in den sozialen Medien ausdrücklich verlangen. Mit dem so erreichten grösseren Bekanntheitsgrad der Künstler können sie erfolgreicher für die analogen Spielhäusern angepriesen werden. 

 

Die sozialen Medien ihrerseits verändern die künstlerische Arbeit. 

-       Sie zwingen zur Visualisierung. 

-       Sie zwingen zur Kürze. 

Und dies verändert den Inhalt eines Werkes, also auch den Inhalt, der nachher auf der analogen Bühne gezeigt wird.  

 

Auch hier die Frage: Ist diese Beschleunigung wirklich neu und nur durch Digitalisierung bedingt? 

Schon lange müssen Originaltexte gekürzt und gekürzt werden, weil wir mehrstündigen Aufführungen nicht hat mehr folgen können. 

-       (Das gilt ja auch für Reden: Cicero und Castro durften noch vier Stunden reden. Heutige Politiker maximal noch eine Viertelstunde

-        Und auch diese Viertelstunde ist oft 15 Minuten zu lang.)

 

Wie prägen digitale Zeiten uns, das Publikum? 

 

Die Diskussion über kulturelle Werke verändert sich mit den Medien, die das Publikum nutzt. 

Klassische Zeitungen werden umgebaut, Kulturberichterstattung wird abgebaut. 

Es verlagert sich der vormals professionelle Kulturjournalismus auf ein Je-ka-mi im Netz, meist kurzatmig, meist aus dem Ärmel geschüttelt. Die Diskussion verlagert sich aufs Netz und nimmt dort eine neue Gestalt an. 

Auf diese Foren sind jedoch sowohl die Kulturschaffenden als auch ihr Publikum angewiesen.

Jedes kulturelle Schaffen, ob in Wort, mit Musik, Video oder auch mit ganz anderen Aktionen, sucht einen Widerhall durch die Mitmenschen. 

Kulturschaffenden ist ein «buh!» lieber ist als eiskaltes Schweigen.

Es gibt zu dazu den Ausdruck «Diskursiver Resonanzraum». Wir müssen uns nicht immer gerade so hoch gestochen ausdrücken. 

Es genügt auch festzuhalten: Kultur ist angewiesen auf Kommunikation, und das heisst nichts anderes als Gemeinsamkeit.

Diese Gemeinsamkeit nimmt mit der Digitalisierung neue Formen an. 

 

Neue Formen bedeuten immer auch neue Inhalte. 

Function follows form. 

 

Die Form der Digitalisierung basiert auf einer binären Methode mit den einzigen Komponenten 0 und 1. 

Ob sich unser Denken nicht auch allmählich auf diese duale Formel reduziert? 

 

Wie oft werden wir doch in ein binäres Entscheidungskorsett gezwungen. 

Umfragen, Befragungen, selbst Prüfungen, von der Fahrprüfung bis zum universitären Lizenziat, erfolgen in multiple choice Verfahren. 

Sie berauben uns einer autonomen, kreativen Meinungsbildung, einer differenzierten Entscheidung und reduzieren uns zu Wesen, die sich nur noch binär mit „A oder B,“ mit „Ja oder Nein“ bemerkbar machen können. Das Suchen nach Alternativen ausserhalb einer vorgegebenen Schablone, selbständiges, kritisches Denken und erst recht die Fantasie wird abgewürgt. 

 

Was sich in Politik, in den Universitäten, in den sozialen Medien zeigt, zeigt sich auch auf den kulturellen Bühnen.

   

Es scheint eine direkte Folge davon zu sein, dass Kulturschaffende uns mehr und mehr eine einzige mögliche Interpretation eines Werkes imperativ einpauken, ohne uns eigene Assoziationen zu gestatten.

 

Statt Anregung zum selbständigen Weiterdenken: Eintrichtern von Meinungen. 

Dies widerspricht dem Genom von Kultur. 

Es ist ein Merkmal der Kunst, dass sie erkundet, ertastet, interpretiert und diskutiert werden muss. Wenn uns eine einzige Interpretation aufgenötigt wird, ist das weniger Kultur als vielmehr Politik, Politik mit dem Vorschlaghammer. 

So löst sich ein wesentliches Element der Kunst und der Kultur auf, nämlich die Anspielung, die Mehrdeutigkeit. 

 

Digitale Technologien errechnen ökonomische Werte und Zusammenhänge. Werte, auf denen Religionen, Philosophien, die Zivilisation und die Kultur gebaut sind, vermögen sie nicht zu erfassen. Digitale Mechanismen sollen deshalb Hilfsmittel der Kultur bleiben. Sie dürfen sie aber nicht steuern. 

Oder tut sie das nicht schon längst? Und wir haben nur noch nichts gemerkt?

Dies alles sei zunächst mal im Hinblick auf Ihre Diskussionen heute, morgen und übermorgen in Frageform skizziert und nicht beklagt. Denn alle Kultur ist immer in Bewegung. Nicht jede Veränderung bedeutet auch gleich den Zerfall einer Gemeinschaft. Solange Diskussionen und Kontroversen möglich sind, solange sind virtuelle Bühnen und neue Kommunikationsformen in eine demokratische Gemeinschaft eingebettet und können von dieser aktiv mitgetragen werden. 

***

Somit wünsche ich uns drei Tage erspriesslicher Kontroversen, 

ja, im analogen Stil mit analogen Kaffeepausen. 

Ich gehe gerne davon aus, dass Sie alle aufgeworfenen Fragen definitiv und wissenschaftlich abgesichert beantworten, auf dass sich unsere Enkel und Urenkelinnen immerdar an uns erinnern und sich erzählen: 

Damals im letzten Jahrtausend, an der der NTA10 in Bern, damals 2022, ist alles schon glasklar vorausgesehen worden. 

 

Wenn Ihnen das hier in Bern gelingt, treffen wir uns bei der nächsten Tagung in der Schweiz direkt in den Weinbergen am Genfersee.