Rentenreform und Generationenkonflikt
Key Note am Financial Times Pensions Forum 2015
Zürich, 30.09.2015
Die gegenwärtige Reform der Altersvorsorge wird als Generationenkonflikt diskutiert.
Leitartikel, Leserbriefe, Kommentare in Radio, Fernsehen, Dispute in den Social Medias drehen sich darum, welche Hypotheken wir den nächsten Generationen überbürden dürfen und inwiefern die beruflich aktive Generation zu Leistungen an die Älteren verpflichtet sei oder nicht:
- Die vorgeschlagene Erhöhung der Neurenten um 70 Franken mache den Spareffekt des erhöhten Rentenalters zunichte,
- Die Mehreinnahmen für die AHV (Erhöhung Lohnbeiträge, Mehrwertsteuer) würden vor allem künftige Generationen belasten.
- Die Antwort auf die Frage, wie die Finanzlöcher nach 2030 gestopft werden sollen, überlasse man den politischen Nachfolgern (NZZ Nr 190 vom 19. August S.9).
- Der Beschluss des SR gehe zulasten der jüngeren Generationen (NZZaS 20.09.15): Die AHV baue zwar auf der Solidarität zwischen den Generationen auf, die 3. Vorsorgesäule jedoch nicht. In der jetzigen Reform sei jetzt aber neu eine „Solidarität“ eingebaut worden, was in Tat und Wahrheit eine Umverteilung zulasten der jüngeren Generation sei.
Sind es in der Rentenreform vor allem „bürgerliche“ Mahner, die der künftigen Generation gedenken, so sind es in der Umwelt- und Energiepolitik Grüne und Linke, die beschwören: „Wir sind es unseren Nachfahren schuldig.“ „Wir tun es für unsere Kinder.“
Moralische Grundlagen der Solidarität mit späteren Generationen
An die Solidarität zwischen Generationen wird also hüben und drüben appelliert. Als solche scheint sie keine Frage von links oder rechts zu sein. Die Meinungen teilen sich erst bei der Interpretation von erbrachten oder nicht erbrachten Vorleistungen oder von Gefahren, die wir für die Zukunft setzen.
Die Solidarität mit künftigen Generationen ist eine der wichtigen Säulen jeder Religion und der Aufklärung. Sie ist Basis des Generationenvertrages von Thomas Hobbes und Grundgedanke der Nachhaltigkeit, wie sie von der Brundtland Kommission der UNO geprägt wurde.
Cicero, römischer Staatsmann und Philosoph (eine Kombination, über die damals niemand spottete) verstand diese Solidarität als aktive Vorsorgepflicht:
„Es gilt als unmenschlich, ja verbrecherisch zu sagen, nach unserem Tode möge doch der Weltbrand über alle Länder hereinbrechen. Aus dieser Erkenntnis folgt die Verpflichtung, dass wir auch für künftige Generationen, um ihrer selbst willen vorsorgen müssen.»
(Wörtlich: «Und da ja der berüchtigte Spruch derer als unmenschlich und geradezu als verbrecherisch gilt, die sagen, sie hätten nichts dagegen, wenn nach ihrem Tode über alle Länder der Weltbrand hereinbreche..., so trifft gewiss umgekehrt die Verpflichtung zu, dass wir auch für die Generationen, die in Zukunft einmal leben werden, um ihrer selbst willen Vorsorge treffen müssen.» in «De finibus bonorum et malorum», «Vom höchsten Gut und vom grössten Übel».
In diesem Sinn pflanzt der mediterrane Bauer einen Olivenbaum, obwohl er selber die Oliven nicht mehr ernten kann. Martin Luther reformierte diesen Grundsatz für die Kultur nördlich des Gotthards: „Und wenn die Welt morgen untergeht, pflanze ich heute noch einen Apfelbaum.“
Die Menschen bilden eine Gemeinschaft von Generationen, wo jede für die andere verantwortlich ist. Wir verdanken unser Leben den Vorfahren.
Wir haben daher eine Verantwortung gegenüber künftigen Generationen und müssen ihnen die Erde so hinterlassen, dass sie ihr eigenes Leben und ihre eigene Freiheit so leben können, wie wir es können, so die allgemeine Überzeugung.
Bis in welches Glied, bis zu welcher späteren Generation reicht diese Solidarität? Wir planen für unsere Kinder und für unsere Grosskinder. Sie kennen wir und haben einen Bezug zu ihnen. Den Menschen in tausend oder mehr Jahren fühlen wir uns jedoch weit weniger verpflichtet. Unser Gewissen verliert an Schärfe, je weiter wir von den Wirkungen unseres Handelns entfernt sind. Mit der Distanz schwindet auch die Verantwortung.
Das gilt in räumlicher Hinsicht: Charlie Chaplin erkannte: Wenn du eine Rauferei in der Totale siehst, musst du lachen. Siehst du sie in einer Nahaufnahme, hast du Mitleid. Wer eine tödliche Drohne vom Schaltpult aus steuert, macht sich weniger Gedanken um die Getroffenen, als wenn er ihnen ins Gesicht schauen müsste.
Das gilt auch für die Verantwortung gegenüber der Zukunft. Marquise de Pompadours „Aprés nous le déluge! Nach uns die Sintflut“ ist nur die krasse Zuspitzung einer an und für sich ganz natürlichen Erlahmung der Vorstellungskraft und damit der Empathie auf weite Zeiträume hinaus.
Es gibt aber keinen Grund, weswegen wir nicht auch mit Generationen weit über das alttestamentarische „dritte und vierte Glied“ hinaus solidarisch sein müssten.
Wenn die so genannte Eintrittswahrscheinlichkeit eines Unfalls in einem KKW mit statistischen Studien auf mehrere Tausend Jahren verteilt wird, ist dies in Wirklichkeit eine Überwälzung des Risikos auf unbekannte Nachfahren: Wenn der Unfall in tausend Jahren eintritt: Wie ist es denn ethisch vertretbar, ein Risiko, das wir für uns nicht eingehen wollen, einer Generation zuzumuten, die in tausend Jahren leben wird? (Abgesehen davon wird durch diese statistische Angabe suggeriert, ein allfälliger Unfall erfolge erst in tausend Jahren. Es wird verdrängt, dass er schon morgen eintreten könnte.)
Was bedeutet diese Solidarität inhaltlich?
- Keine Einschränkung der Freiheit
Politisch bedeutet Solidarität zu künftigen Generation, ihnen diejenige Freiheit zu garantieren, die wir für uns verlangen, nämlich politische und individuelle Entscheide autonom zu treffen, also nicht durch Rahmenbedingungen begrenzt zu sein, welche vorherige Generation in ihrem eigenen Egoismus setzten, um sich selber zu bereichern.
- Keine irreversible Eingriffe in die Lebensgrundlagen künftiger Generationen
Solidarität mit künftigen Generationen verbietet also Veränderungen an der Natur, die nicht rückgängig gemacht werden können. Eine solche Änderung ist etwa die Ausrottung einzelner Tierarten oder positiv formuliert: Die Biodiversität ist zu erhalten.
- Keine Abfallhalden hinterlassen
Wir haben zudem nicht das Recht, Probleme zu hinterlassen, die wir selber nicht lösen können. Wenn wir die Erde als Abfallhalde hinterlassen, die gemäss unserem Wissensstand auch später nicht mehr entsorgt werden kann, ist dies eine irreversible Veränderung. Wir selber müssen diesen Abfall beseitigen oder positiv formuliert: Wenn wir das nicht können oder wollen, dürfen wir den Abfall auch nicht produzieren. Das ist eines der Argumente für die Energiewende.
- Neue Risiken
Die tödlichen Folgen der Asbestverarbeitung kommen im Wesentlichen erst auf uns zu und wir ringen darum, in den nächsten Jahren den zum Tode geweihten Opfern und ihren Angehörigen wenigstens den nötigsten Schadenersatz und Genugtuung zu organisieren. Doch auch nach diesen Erfahrungen schaffen wir mit neuen Technologien wie Feinstaub, Druckerschwärze, Nanotechnologie, Pettflaschenverwertung, Pestiziden unentwegt neue Schadenspotentiale, ohne einer Behebung fähig zu sein und überlassen die Lösung unseren Nachfahren.
Jede Gefahrenquelle, die nicht rückgängig gemacht werden kann, mindert die Freiheit und Lebensqualität unserer Nachkommen. Jede Generation geht für ihren Wohlstand auch Risiken ein.
Das ist legitim, solange es ihre eigenen Risiken sind, die sie für sich in Kauf nimmt und sofern künftige Generationen, die diese Risiken nicht akzeptieren wollen, sie auch wieder abbauen können.
Wir wissen um die statistische Anzahl Verletzter oder Toter im Strassenverkehr, und unsere Gesellschaft akzeptiert diese Zahl mehrheitlich. Wirtschaftliche Vorteile und Lebenslust rechtfertigen dieses Risiko für eine Mehrheit der jetzigen Generation. Darüber gibt es eine öffentliche Debatte, am Beispiel des Projektes via sicura. Will eine künftige Generation unser heutiges Risiko nicht mehr akzeptieren und der Mobilität weniger Menschen opfern, kann sie das ohne weiteres ändern, so wie wir es auch heute schon ändern könnten, wenn wir wollten. Aber was nicht angehen kann, ist, ein Risiko auf Kosten von Menschen zu schaffen, die sich erstens nicht dazu äussern können, weil sie noch nicht geboren sind und zweitens auch später nicht mehr die Möglichkeit haben werden, dieses Risiko aus der Welt zu schaffen.
Die Maxime gegenüber künftigen Generationen muss also sein, ihnen nur das zuzumuten, was wir für uns ebenfalls ausdrücklich akzeptieren würden.
Wir können uns nicht mit der Vermutung begnügen, spätere Generationen fänden dann schon eine Lösung. Wenn unser heutiges Wissen dazu nicht in der Lage ist, müssen wir jede neue Technologien oder Abfälle unterlassen.
Wenn wir uns einig darüber sind, dass eine neue Technologie dieselben oder schlimmere Auswirkungen als Asbests hat, sind wir uns auch einig, dass sie nicht angewendet werden dürfen. Über den moralischen Grundsatz der Solidarität sind wir uns einig, nicht aber über die effektiven Gefahren. Darüber streiten Wissenschaft und Politik.
- Keine Schulden?
Ein finanzieller Schuldenberg beschränkt unsere Nachkommen genau so wie ein Abfallberg. Beide Berge müssen sie mit gigantischem Aufwand entsorgen, sofern das überhaupt möglich ist.
Bei den finanziellen Schulden müssen wir aber differenzieren: Es ist ein Unterschied, ob Investition in die Infrastruktur, von der spätere Generationen profitieren. Sie dürfen daran auch etwas bezahlen.
Deswegen wurde NEAT-Finanzierung bewusst zu einem Viertel als Verschuldung konzipiert. Das kann zu kniffligen Fragen führen:
Wie soll die Energiewende finanziert werden? Eine CO2 Abgabe oder Steuer erfolgt zulasten der jetzigen Generation. Die Subventionen von Erneuerbaren belasten künftige Generationen dann, wenn sie zu einer Verschuldung des Staatshaushalts führen. Wenn Pensionskassen in Fonds investieren, welche Erneuerbare oder die Energieeffizienz finanzieren, sichern sie spätere Renten.
Die Frage, ob Schulden legitim sind oder nicht, ist immer differenziert zu beantworten.
Was bei neuen Technologien chemische, physikalische und ökologische Auseinandersetzungen sind, sind bei der Rentendiskussion soziologische und ökonomische Dispute über politische Vernetzungen bei den Sozialwerken und der Altersvorsorge.
Geben und Nehmen zwischen alt und jung
Die Leistungen einer Generation, die sie für die kommenden erbracht hat, sind schwierig zu errechnen und daher auch nicht exakt zu ermitteln.
Sie unterliegen immer einer politischen Wertung. Auf jeden Fall geht es nicht nur um finanzielle oder versicherungstechnische Fragen.
Dazu leisten die Leserbriefe um die laufende Rentenreform viele Beispiele.
- Eine Generation, die den Krieg erleben musste, kann der nächsten keine finanziellen Hinterlassenschaften machen. Sie hat aber dafür für die künftige Generation einen späteren Frieden erlitten.
- Wer mit seinen Kindern auswandert, hinterlässt ihnen in der Regel noch gar nichts, ausser einem besseren Land, in dem die Kinder dann ihrerseits ihre Chancen packen können.
- Eine Erziehung in Geborgenheit ist auch eine Investition (verbunden vielleicht mit dem Verzicht der Eltern auf doppeltes Einkommen).
- Den Kindern durch die Schulen helfen oder sie zu einer Tennis- oder Fussballkarriere peitschen ist ebenfalls ein Kapital, das sich nicht immer errechnen lässt.
- Ein Beitrag für die Kinder und Grosskinder kann durch die Grosseltern erfolgen. Und es geht nicht nur um die Kinder:
Das Recht, seine Fähigkeiten zu entfalten, gilt auch nach der Pensionierung
Ich durfte Erfahrungen nach meinem Rücktritt sammeln:
„Willkommen im Club“, „Wann machen Sie Ihre nächste Reise?“ „Spielen Sie auch Boule?“
Das sind nicht nur Clichés, dahinter verbirgt sich auch Egoismus!
Die Leistungsfähigkeit weit über 65 ist unbestritten. Gewiss, das Pensionsalter eines Gipsers und eines Beamten kann wegen der Art des Berufes und der körperlichen und seelischen Belastung nicht über einen Leisten geschlagen werden. Aber meine politischen Gegenüber waren damals alle älter als 70: Meri, Madl, Napoletano, Havel, Fischer.
In Japan, wo die Financial Times ihre neue Heimat hat, beginnt eine politische Karriere oft erst nach 60 Jahren.
Wie kann die Gesellschaft dieses Produktionspotential sozial gerecht ausschöpfen und nicht nur dann, wenn der Wille der Betroffenen gegeben ist.
Die Freiwilligenarbeit, erbracht vor oder nach der Pensionierung ist auch ein Beitrag über die Generationen hinaus. Es geht nicht nur darum, die Grosskinder zu hüten. Auch wenn der Beitrag für noch Ältere erbracht wird, entlastet er die künftige Generation. Sie kommen auch anderen Menschen der jetzt lebenden Generationen zugute (von Kleinkindern bis zu Pflegebedürftigen). Es ist insofern auch ein Beitrag an künftige Generationen, als staatliche Gelder für Betreuungskosten (Genossenschaften, welche Altersbetreuung durch Rentner organisieren und dafür Zeitgutschriften als Anreiz verwenden).
Derartige Leistungen dienen zudem in erster Linie der eigenen Lebensqualität, der Selbstverwirklichung und geben dem eigenen Leben einen Sinn.
Ein aktiver Einsatz im Alter zwischen 65 und 80 entspricht also einerseits eine Bedürfnis der Gesellschaft, die auf die Erfahrung und das know und den Schaffenswillen der Älteren angewiesen ist.
Es ist für diese selber aber auch schön und bereichernd, Verantwortung wahrzunehmen. Die heute Pensionierten sind im Durchschnitt gesehen begütert, doch das Geld verhilft ihnen nicht zum Glück. Das immer wieder zitierte Beispiel der gesunden Seniorin aus England, die sich in der Schweiz zum Freitod meldete, ist zumindest ein Indiz für eine Identitätskrise von vielen. Von daher gibt es auch ein moralisches Recht, sich im dritten Alter für die Gesellschaft nützlich machen zu dürfen.
Dieses Recht ist nicht verwirklicht. Die Pensionsguillotine, die mit ihrem uniformen Gleichschnitt alle Berufe gleich behandelt, verunmöglicht sie.
Wie aber können bei uns Leute über 65 produktiv sein? Die Frage ist für die Sozialwerke wichtig.
Gemessen an dieser Frage betrifft die Rentenreform 2020 nur einen winzigen Bereich. Wir diskutieren anlässlich der Rentenreform darüber, ob das Rentenalter der Frauen um ein einziges Jahr heraufgesetzt werden soll. Die Idee eines Rentenalters 67 wurde einstweilen fallen gelassen und ist nicht Gegenstand der parlamentarischen Diskussion. Die demographische Entwicklung zeigt uns aber mindestens 15 zusätzliche Jahre von Produktionsmöglichkeit in den Lebensjahren 65 – 80. Schon nur die gegenwärtig diskutierte Reform wird es nicht leicht haben, die Hürden der direkten Demokratie zu nehmen.
Der Demokratie neigt zu egoistischen Mehrheitsentscheiden
Es gibt die Neigung jedes Menschen, zunächst an das Ich zu denken, und erst danach an das Du und erst noch sehr viel später an das „er, sie, es“, nämlich die anderen, die er noch gar nicht kennt, also auch an die künftige Generation. Ebenso neigt jede Demokratie dazu, sich in ihren Entscheiden von dieser Tendenz leiten zu lassen. „Was bringt oder was nimmt mir eine Vorlage?“ ist trotz aller beschworenen Solidarität meist das erste Kriterium.
Bei der Reform der Altersvorsorge kommt dazu, dass die Kosten und Nutzen nicht im selben Maß transparent sind: Die Höhe der Renten ist evident. Jedermann weiß, was er erhält oder gekürzt wird. Die Kosten in Form von Steuern, Preisen oder gar einer tieferen Beschäftigung sind aber abstrakt, werden kaum auf den einzelnen umgerechnet und sie sind daher nicht transparent (NZZ Nr 190 9. August S.9). 1,5 Mio Stimmberechtigte befinden sich im Rentenalter. Schon 2003 wurde die 11. AHV Revision verworfen. Und 2010 hatte die Senkung des Umwandlungssatzes der Pensionskassen keine Chance.
Gesellschaftsmodelle auf dem Reissbrett
Reformen haben es mehr als schwierig. Vielleicht flüchten sich viele, die etwas grundsätzlicher denken möchten, in Theorien, wie wir Leben und Arbeit gestalten sollten.
Ich verfolge solche Gesellschaftsmodelle aus Denkfabriken oder von einzelnen Philosophen interessiert und ich beteilige mich gerne an solchen Diskussionen mit eigenen Ideen.
Beispiel Arbeitszeitverteilung: Es gibt zahlreiche Modelle und Denkansätze, wie nicht nur Einkommen und Vermögen, sondern auch die Arbeitszeit verteilt werden könnte: Esther Villar: „Fünf Stunden Gesellschaft“, später „25 Stunden-Woche“. André Gorz wollte einer Zweidrittels Gesellschaft mit radikaler Arbeitszeitverkürzung beikommen. Er verband das mit Recht auf Arbeit. Diese sollte aber auf alle verteilt werden.
Wer von uns hat nicht Ideen, wie eine ideale Verteilung von Arbeit und Zeit organisiert werden könnte?
- Die starren Grenzen zwischen den Lernjahren, der Erwerbsphase und dem Ruhestand sollten überwunden werden. Ansatzweise ist dies der Fall, doch es ist nicht die Regel. Dass zeitlebens gelernt werden sollte, hören wir mittlerweile an jeder Diplomfeier.
- Die Diktatur des fixen Rentenalters sollte gestürzt werden. Die mittlere Lebensphase soll auch für Familien- und Bildungstätigkeit genutzt werden,
- entsprechend muss Erwerbsarbeit weit über die das heutige gesetzliche Rentenalter möglich sein.
- Die Arbeitszeit insgesamt sollte neu verteilt werden: Während längerer Zeit über das ganze Leben, jedoch pro Jahr weniger arbeiten.
- Zudem müsste die jetzige konstant lineare Erhöhung von Arbeitszeit und Einkommen verändert werden. Jetzt gilt: Immer mehr arbeiten und immer mehr verdienen bis dann mit 65 der Höhepunkt erreicht ist, dem ein abruptes Ende.
- Statt dessen wäre möglich: Weniger während der Elternschaft, in der vollen Arbeitskraft mehr und mit dem Alter wieder abnehmend.
Als Realpolitiker in einer Referendumsdemokratie bleiben mir solche Experimente illusorisch, weil ich mir ihre gesetzliche Umsetzung nicht vorstellen kann, weder eine Erhöhung des Rentenalters, noch eine Rentenkürzung. Dabei geht es nicht nur um die Chancen in einer Volksabstimmung in unserer direkten Demokratie.
Auch die heute gelebte Realität spricht Bände. Einerseits beträgt heute nämlich das durchschnittliche Rentenalter der Männer effektiv 63, 5 (statt 65 Jahre) und das der Frauen 63 statt 64 Jahren. Seit Jahren gibt es rund 30% Frühpensionierungen. 6000 Arbeitnehmende werden mit 55 Jahren pensioniert und in den darauf folgenden Jahren sind es jedesmal wieder 6000 pro Jahrgang.
Dazu kommt: Bei uns gestaltet sich äusserst schwierig, zwischen 65 und 80 weiterhin Verantwortung wahrnehmen zu dürfen. In Tat und Wahrheit ist es heute beinahe unmöglich, ab 60 Jahren neue Jobs zu finden. Kann ein Arbeitnehmer nicht bis zum Rentenalter arbeiten, verliert er also vorher die Stelle, ist ein neuer Job oft schon ab 55 unmöglich zu finden. „Sie sind überqualifiziert etc“
Die Schere zwischen erfülltem Lebensherbst und einem eiskalten Winter öffnet sich
So öffnet sich eine weitere Schere in unserer Gesellschaft. Es sind eher Gebildetere, also auch Begütertere, die sowohl AHV, als auch eine Pension und zudem ein Einkommen nach der Pension erzielen. (Also 1.Säule, 2., Säule und Einkommen). Abgesehen davon hat früher hat die aktive Generation geerbt. Heute sind es die Pensionierten.
- Sie sind es, die wegen ihrer Lebenserfahrung in der Lage sind, neue Geschäftsfelder zu entdecken und sich produktiv einzubringen.
- Rechtsanwälte und Architekten können ewig arbeiten und machen im Himmel oder der Hölle wohl einfach weiter.
- Sie konnten ihr Lebensweise autonomer gestalten und haben dadurch den Vorteil, ohne von einem Chef oder rein mechanischer Arbeit konditioniert zu sein, den Lebensabschnitt nach der Pension selbstbewusster, kreativer und produktiver zu gestalten.
- Das ist nicht etwa eine Frage von Akademiker / nicht Akademiker
- Handwerker sind eher geeignet, selbständig zu arbeiten als ein Lehrer (zwar belehrt dieser dann einfach seine Frau, doch würde diese eher schätzen, wenn er die Heizung reparieren könnte).
- Es gibt hochqualifizierte Berufe, die nicht selbständig ausgeübt werden können: Pilot = höchste Ausbildung, aber immer der Maschine gehorchend. Diszipliniert. Aber nicht gewohnt, sich neu zu orientieren, flexibel zu sein. (Daher auch eine etwas unflexible Gewerkschaft...). Zwar schaffen das viele von ihnen, aber es fällt ihnen schwerer als anderen.
- Konditionierung der Berufe schreitet munter voran. Das Strafrecht löst langsam das Zivilrecht ab.
- Das betrifft mittlerweile auch das Universitätsstudium: lic. iur damals und Uni SG heute.
Eine Überreglementierung des Berufslebens führt zu Abhängigkeit, die sich dann rächt, wenn der Schritt in die Selbständigkeit nötig wäre. Vgl. auch Anstellungsverfahren mit Bewerbungen, wo vom Computer aufgrund verwendeter Wörter und Schreibwendungen die Anstellungen vorselektioniert werden. So werden Leute konditioniert und nicht selbständig. Die entsprechende Erfahrung fehlt dann im 3. Alter.
Für Ungebildete ist das Alter der Winter; für Gebildete die Ernte (Hoeffe in NZZ 24.08.015).
Dieses Auseinanderdriften der Gesellschaft hat staatpolitische Folgen, denn ein Drittel der Bevölkerung ist älter als 65.
Experimente wagen und fördern
Wie kann eine Neuordnung des dritten Alters gestaltet werden?
Wenn wir um gesetzliche Reformen ringen, die erstens erst in zwanzig Jahren zum Tragen kommen und die zweitens nur einen Bruchteil der eigentlichen Herausforderung lösen, sind die freiwilligen Lebensgestaltungen und die unternehmerischen Experimente ausschlaggebend. Erst sie können den Weg für eine spätere gesetzliche Änderung ebnen.
Nötig sind höhere Quoten von selbständig Denkenden und selbständig Erwerbenden. Eine Gesellschaft von autonom Denkenden und Handelnden ist auch wettbewerbsfähiger und für sie ist das Älterwerden keine Bedrohung. Finanziell kann selbständige Erwerbsarbeit auch von den Sozialwerken getragen werden: Für die AHV wird weiterhin bezahlt und die Bezüge aus der 2. Säule müssen an das Einkommen angerechnet werden.
Daher kommt vorgelebten Modellen und Experimenten in einzelnen Firmen oder individuellen Lebensweisen hervorragende Bedeutung zu.
Sie erst schaffen eine moralische Akzeptanz, die später eine gesetzliche Regelung ermöglicht. Ähnlich der Kaskade Freiwilligkeit / moralische Festigung / gesetzliche Vorschrift, die wir im Umweltrecht kennen, kann die Voraussetzung für eine demokratische Mehrheit nicht aufgrund theoretischer Erkenntnisse geschaffen werden, sondern erst durch vorgelebte Experimente.
Erst wenn Schulen und Universitäten und später auch einzelne Unternehmen eine Kultur von selbständig denkenden Arbeitnehmern fördern, kann das dritte Alter in Würde und in Produktivität Fuss in unserer Gesellschaft fassen, so modellhaft für eine solidarische Generation werden.
Die gesamte Veränderung in einer Demokratie lebt davon, dass zuerst Freiwillige handeln und dann langsam eine Erkenntnis wächst, die eine demokratische Mehrheit finden kann. Dazu aber braucht es das beherzte Vorangehen derjenigen, die einen Apfelbaum pflanzen.