Navigation ausblenden

Das Powerplay um das Private

Zum zwanzigjährigen Jubiläum des Symposiums on Privacy and Security, Zürich

Zürich, 27. August, 2015

1. Wir ziehen verschiedene Privatsphären um uns – vom unendlichen öffentlichen All bis zum kleinsten Kern in unserem Innersten

Ich bin schon früh erzogen worden, mich geistig nicht in eine Privatsphäre flüchten zu können. All meine Gedanken waren total transparent, wenigstens gegenüber dem lieben Gott.

„Der liebe Gott ist überall. Er sieht alles. Er sieht, was du denkst, bevor du es tust, er weiss auch, warum du etwas tust oder nicht tust. Und wenn du denkst, du sollst etwas Böses nur deswegen nicht tun, weil er es ja doch sieht, genügt ihm das nicht! Er will, dass du das Gute ganz von innen heraus willst.“

(Damit meine Schulkameraden sich ebenso überwacht fühlen, schrieb ich auf mein Lineal: „Gottes Aug ist überall, drum stiehl mir nicht das Lineal.“)

Vor dem lieben Gott gab es also keine Privatsphäre. Vor den Eltern wahrte ich mir eine solche. Ich wusste, wie ich Mickey Mouse Heftchen verstecken konnte. Die Bettdecke bildete die Grenze – wenigstens dann, wenn ich drunter war, nachher schaute man auch dort nach.

Gegenüber Schulkameraden teilte ich die Freude an diesen Heftchen und damit den ganzen Sprachschatz, den sie boten: „Ächzg, Würg, Schluchz, Ent oder Weder“.

Was privat bleiben, was unter Freunden geteilt werden soll, handhabt jeder und jede verschieden, kaum je nach rationalen und systematischen Kriterien. Dieselben räkeln sich einmal für die Illustrierte mit der neuen Geliebten auf dem Sofa oder strampeln auf dem Hometrainer, und das andere Mal verweigern sie Auskünfte über ihr Einkommen oder ihre Spenden. Die Heirat wird gerne öffentlich gefeiert, die Scheidung bleibt lieber Privatsache.

Es gibt Bereiche, die öffnen wir im Internet ungeniert allen, es gibt solche, die mögen wir auch unserem Ehepartner nicht anvertrauen.

So ziehen wir unterschiedliche Kreise um das, was wir als privat empfinden, wir schwingen sie, wie kleinere und grössere Hula-Hoop Reifen, aus dem Zentrum unseres Bauches, beziehen einmal grosszügig den halben Globus ein, mit uns völlig unbekannten Freunden, das andere mal halten wir engmaschig selbst nahe Bekannte fern. Und es gibt im Innersten all dieser Kreise einen Kern, den wir selber nicht kennen, der von unserem Wissen und Empfinden abgeschirmt ist. Manche versuchen, mit Hilfe einer Psychoanalyse zu diesem Geheimnis vorzudringen. Das kann hilfreich sein, doch fordert die Spaltung des seelischen Atomkerns zuweilen viele Opfer.

Es gibt Menschen, die scheuen jeden Kontakt. Sie ziehen ihre Privatsphäre besonders weit und sehr rigoros. Das nennen wir asozial, weil es sich bis zu einer krankhaften Paranoia weiten kann, wenn sich jemand monatelang in der eigenen Wohnung versteckt.

Die Angst vor Missbräuchen im Netz kann zur völligen Internetabstinenz, zu einem Leben in offline führen. Das gilt heute als asozial, denn der Zugang zum Internet gehört zum soziokulturellen Existenzminimum. Vielleicht muss ich mir mit meiner Verweigerungshaltung eine ähnliche Diagnose gefallen lassen. Ich mochte mich bis jetzt bei keinem einzigen Social Medium einloggen, auch wenn mir von facebook oder Linkedin täglich neue Freundschaften angetragen werden, sogar aus der Bundesverwaltung.

Es gibt auch die Flucht ins Darknet. Mit Anonymisierungsprotokollen gelangt man auf Rechner, die alle Anfragen verschlüsseln, und so keinerlei Spuren hinterlassen, weder für die Giganten Apple und Amazon, noch für Geheimdienste oder die Polizei.

Und dann das pure Gegenteil, die sorglose Öffnung aller Intimitäten für den ganzen Internetkosmos. Getrieben von der Hoffnung, als Sängerin oder Schauspielerin entdeckt zu werden, exponieren sich Jugendliche wie Senioren.

 

2. Kriterien für die Wahrung oder Preisgabe privater Dinge

Es gibt aber auch ein differenziertes Verhalten, das jedes Öffnen oder Schliessen einer privaten Sphäre digital mündig reflektiert. Was sind das für Kriterien?

Politische Kriterien

Die jeweils herrschende Moral und Gesetzgebung verschieben sich permanent und sind gesellschaftspolitischen Modeströmungen unterworfen. Der Umfang der Privatsphäre selbst ist dabei ein wesentliches Politikum:

-         1968 wurde die Privatsphäre geöffnet: Bekenntnisse zum Konkubinat, zur Abreibung, zur Homosexualität haben zu einer fundamentalen Veränderung der Gesellschaft geführt. Eine Scheidung ist kein Makel mehr, um ein öffentliches Amt zu bekleiden, auch Homosexualität nicht, in keiner einzigen Partei. Bereits werden Heteroquoten gefordert.

-         Umgekehrt mischt sich der Staat in andere, früher als privat angesehene Bereiche ein: Gewalt in der Ehe ist nicht mehr ein Antragsdelikt.

-         Diese Befreiung wurde dann aber auch zu Kommerz. Neue Herrschaftsformen entstanden. Die Liberalisierung der elektronischen Medien erfolgte im Gleichklang mit Liberalisierung der Intimität; beides wurde zu kommerziellen Zwecken genutzt.

-         Heute besteht die Tendenz: Privatsphäre der Politiker ist wichtiger Inhalt, den sie vertreten:

-         Klimaerwärmung. Tendenz weg von der von Politik hin zur Moral und zu moralisierender Empörung. (Unter dem entsprechenden Foto der Text: Die Ehefrau des Verkehrsministers parkt über das Parkfeld hinaus.)

 

Kulturelle Kriterien

Je nach Kulturkreis wird die Privatsphäre verschieden gezogen:

  • Gemeinschafts WC in China - Toi Toi in der Schweiz, für deren Austauschlogistik sogar Datenschutzrichtlinien eingeholt wurden

(M2M: ob und wann sie voll sind und ausgetauscht werden, wird mit Ultraschall so eruiert, dass der letzte Besucher nicht als Verursacher dasteht).

  • pakistanischer Taxichauffeur in Zürich, der mich fragt, wie hoch meine Pension sei, ob ich Nebeneinkünfte habe, ob mir die Pension entsprechend gekürzt werde und ob das Auto des Nachbarn mein Auto sei.
  • Unterschiede zwischen Stadt und Land: Es kommt drauf an, wie emanzipiert die Öffentlichkeit mit dem Wissen um die Privatsphäre umgeht: soziale Probleme werden in der Stadt anonymer behandelt als im Dorf.

 

Unser Verhalten gegenüber Medien:

Was ist von öffentlichem Interesse?

Einerseits: Freiwilliges Öffnen der Privatsphäre:

-         Narzisstische Tendenzen sind immer Teil der Politik.

-         Serie im Tagi während der Sommerferien: Journalisten räumen ihr Zimmer auf und schreiben öffentlich darüber: öffentliches Interesse?

Anderseits: Mediales Eindringen in die Privatsphäre:

-         Öffentliche Person zu sein legitimiert nicht jede Indiskretion. Sie hat auch ihre geschützten Sphären; sie mögen mitunter weiter gesteckt sein als bei Personen, die nicht öffentlich sein wollen.

-         Immer im Einzelfall abzuwägen:

Meine Heirat, glaubte ich, sei privat. Aber öffentliches Interesse war legitim, weil Konkubinat ein Wahlkampfthema war, das auch ich nutze.

Unser Verhalten gegenüber Vertragspartnern:

(Ich spreche als Jurist; nicht alle wissen, dass sie Vertragspartner von Apple oder Google sind.)

Do ut des. Wie bei jedem Vertrag geht es um gegenseitige Interessen.

Wir öffnen dem Vertragspartner die Privatsphäre, wenn wir uns davon einen Vorteil versprechen, etwa angestellt zu werden oder die Wohnung zu erhalten.

-         Darf in diesem Sinn ein Vermieter danach fragen, ob man Raucher oder homosexuell sei? Eine Genossenschaft sorgte damit kürzlich für Schlagzeilen, berief sich aber darauf, sie wolle Minderheiten eben gerade bevorteilen und für eine pluralistische Durchmischung in ihren Siedlungen sorgen.  (Der Vorteil besteht darin: Ich erhalte die Wohnung, obwohl ich nicht dem Durchschnitt entspreche.)

-         Krankenkasse Südafrika: Essengewohnheiten überprüfen und entsprechend Verbilligung der Prämien. Die Daten werden an andere KK nicht herausgegeben. (Vorteil: Billigere Prämien)

-         Versicherung will Kontrolle mit Tachoscheiben über die Geschwindigkeit in „Raser-anfälligen“ Autos? Kann zu billigeren Prämien führen, wenn nicht gerast wird. (Vorteil: billigere Prämien)

Doch im Internet werden all diese Abwägungen über Nutzen und Schaden kaum gemacht. Warum?

-         Das Bewusstsein eines Vertragsverhältnisses wird von vielen trotz angeklicktem Einverständnis mit allgemeinen Geschäftsbedingungen gar nicht realisiert und deshalb erfolgt die Öffnung der privaten Grenze meist sehr bereitwillig.

Bei updates ist für viele das Anklicken von „akzeptieren von Geschäftsbedingungen “ gleichbedeutend mit „fortfahren“.

-         Anonymität: Von Angesicht zu Angesicht gibt es Hemmungen sowohl hinsichtlich Preisgabe eigener Intimitäten.

-         Die Kehrseite der Anonymitätsmedaille besteht in den fallenden Hemmungen und den Aggressionen gegenüber anderen:

  • Bsp. Täglicher Schimpfer per Mail, der mir physisch begegnete und unglaublich freundlich war und mir „alles Gute in meinem Leben“ wünschte: Vis à vis, face to face, offenes Visier garantieren Empathie und Sympathie. Sie entfallen bei der Anonymität.
  • Der digitale Mob lebt von der Anonymität. Die Unsichtbarkeit des Netzes,  der Schutz der Dunkelheit lässt moralische Hemmungen fallen. Netzteilnehmer kennen ihre Opfer nicht, können ihnen nicht in die Augen schauen und sie werden so zu Mördern. Neid und Minderwertigkeitsgefühle werden freien Lauf gelassen. Unschuldige Opfer werden an den Pranger gestellt und buchstäblich zu Tode gequält. Viele Jugendliche wurden in den Tod getrieben, oder Berufsleuten wegen einer harmlosen politischen Unkorrektheit aller Ämter enthoben.

-         Unwissen über Spätfolgen. Unbekümmertheit, Verdrängung:

  • Bsp: Handy Verbot in BR Zimmer. Sehr langer Anlauf, bis das befolgt wurde.

 

Das Verhalten gegenüber dem Staat (im Vergleich mit Privaten)

Die Bereitschaft, wirtschaftlichen Mächten Geheimnisse anzuvertrauen, ist offensichtlich grösser als diejenige gegenüber dem Staat.

Misstrauen gegen Staat, sorglose Offenheit gegenüber face book, Amazon und Apple.

Auch die Einstellung zu Staat einerseits und Wirtschaft andererseits ist einer politischen Modewelle unterworfen. Wirtschaftsmonopole werden weniger als Bedrohung wahrgenommen als der Staat:

Analogie:

-         Benzinpreissteigerungen um 30% sind kein Problem, wenn sie vom Markt bestimmt werden. Ein einziger Rappen Mineralölsteuer führt aber zur Rebellion.

-         Das hat mit der Aversion gegen den “Staat“ zu tun (classe politique, Mehr Freiheit, weniger Staat).

Statistische Erhebungen der Herkunft von „Rasern“:

Gegenüber Bemühungen der Strassenverkehrsämter und Aufzeichnen in Polizeistatistiken gab es heftigen Widerstand, während dasselbe Anliegen von Haftpflichtversicherungen geradezu begrüsst wurde. (do ut des)

Auch da wogen die politischen Moden auf und ab:

Bespitzelungen scheinen nicht in allen Zeiten gleich hohe Wellen zu schlagen: Fichenskandal. Wo ist Empörung heute? Ein Grund: Terroristische Bedrohung, mit welcher heute Überwachungen legitimiert werden, wird heute ernst genommen. Die kommunistische Bedrohung wurde aber vor dem Fichenskandal auch während langer Zeit als ernste Gefahr gesehen.

(Die Aufdeckung der Fichen und die Empörung darüber erfolgten aber zusammen mit dem Fall der Berliner Mauer.)

 

3. In unsere Privatsphären wird eingedrungen

Wir sind nicht autonom, den Umfang dieser Kreise zu ziehen.

-         Moralische Normen und Gesetze erzwingen im Interesse der Allgemeinheit eine Öffnung: Der Grundstückeigner soll öffentlich bekannt sein.

-         Andere Menschen oder Unternehmen, darunter Medien, wollen den Umfang unserer privaten Kreise in ihrem Sinn festlegen. Sie überzeugen, verführen oder manipulieren uns, um eindringen zu können. Und sind wir nicht willig, brauchen einige zuweilen Gewalt. Sind sie eingedrungen, machen sie sich sesshaft und bleiben, obwohl wir nicht einen ewigen Pakt schlossen und sie nicht mehr wollen oder gar nie wollten.

Die Motive des Eindringens sind verschieden.

Es gibt die interessierte Mitmenschen

Es gibt zunächst die Mitmenschen, die sich interessieren. Menander schuf in einer Komödie den bekannten Vers:

„Ich bin ein Mensch: Nichts Menschliches nenne ich mir fremd.“

Auf lateinisch ist dieser Vers seit Jahrhunderten ein geflügeltes Wort:

„Homo sum, humani nil a me alienum puto.“

(Ein Mann schuftet in seinem Garten. Sein Nachbar spricht ihn an: Warum er sich denn so abrackere? Der Angesprochene reagiert hässig: „Was kümmerst du dich um fremde Dinge, die dich nichts angehen?“ Der forsche Nachbar outet sich „Ich bin ein Mensch: Nichts Menschliches nenne ich mir fremd“.)

Das „Eigene“ und das „Fremde“: Der eine zieht die Grenze fein säuberlich dem Gartenzaun entlang, der andere mischt sich ein.

In Menanders Komödie meint das Dorf die Welt, die attischen Nachbarn werden zu globalen Nachbarn. Wir alle wollen uns einmischen und all unsere Nachbarn wollen sich einmischen, denn uns allen ist nichts Menschliches fremd.

Das kann nette Anteilnahme sein:  Die Stewardessen der Swiss fragen mich regelmässig vor allen Leuten: „Gehen Sie in die Ferien? Wohin gehen Sie? Wie lange bleiben Sie?“ Dazu wurden sie offensichtlich geschult. Mir ist das peinlich, denn:

Solche Anteilnahme kann rasch zur Indiskretion und zum Beginn von Gesinnungsschnüffelei verkommen.

(Ich kann mich erinnern, als zum Beispiel in den Kaffeepausen des Bundesrats reihum gefragt wurde, „Glaubst du an einen Gott oder nicht?“)

Von der blossen Neugierde zum Voyeurismus und den anschliessenden Einmischungen und Belästigungen ist es ein kurzer Weg.

Das einst beliebte Buch mit den Autonummern und den Namen der Besitzer gibt es heute nicht mehr, weil Frauen am Steuer identifiziert und nachher privat aufgesucht wurden.

Mediale und wirtschaftliche Interessen

Die Medien nehmen einerseits, wie ihr Name sagt, mediale Aufgaben wahr, also die Neugierde von Mitmenschen an Mitmenschen.

Das kann einer sozialen Funktionen, aber auch Voyeurismus entsprechen. Andererseits sind Medien auch ganz gewöhnliche Wirtschaftsunternehmen, die mit der Erforschung unseres Lese-, Hör- und Sehkonsums die eigene Auflage und Anklickquote steigern, um mit der Kommunikationsbedürftigkeit der Menschen Geld zu verdienen, genauso wie es Banken, Versicherungen und Amazon sind.

Es gibt das Gemeinwesen, das im öffentlichen Interesse unsere privaten Kreise anders definiert, als die Betroffenen es gerne sähen.

Gewalt in der Ehe, Bankgeheimnis, Patentrechte, Parteienfinanzierung: In einer Demokratie sollte letztlich eine Mehrheit die Kriterien des öffentlichen Interesses umschreiben und entsprechend sollte eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden.

Juristische Zwischenbemerkung zur Privatsphäre von Kapitalgesellschaften:

(Die Wirtschaft beruft sich gegenüber dem Staat, gegenüber interessierten Individuen oder Medien ebenfalls auf Privatheit. Sie ist meines Erachtens dazu nicht legitimiert. Sie hat zwar Anrecht auf Freiheit gegenüber dem Staat. Sie kann Investitionsschutz bei der Erforschung von Medikamenten geltend machen, oder Eigentumsrechte. Die Frage der Preisgestaltung oder der Zurverfügungstellung von Medikamenten gegen Ebola oder HIV wird nach diesen Normen entschieden – in Abwägung zu öffentlichen Interessen, die auch in der Gesetzgebung festgehalten sind. Aber keine legitimen Interessen einer juristischen Person können mit einer Intimsphäre, also mit einem Menschenrecht, legitimiert sein. Eine AG hat eine gesetzlich legitimierte Autonomie, sie hat auch ein Geschäftsgeheimnis gegenüber ihrer Konkurrenz, aber sie hat keine Privatsphäre. So wie meines Erachtens eine juristische Personen keine Ehre haben kann, obwohl dies unsere Gerichtspraxis bejaht, hat eine Aktiengesellschaft keine Seele. Das haben die Aktionäre oder die Manager. Sie können sich auf Privatheit berufen wie andere Menschen auch, aber die anonyme Gesellschaft kann weder eine Seele, noch Ehre noch Privatheit beanspruchen. Das ist eine juristische Bemerkung.

Zum selben Ergebnis kommen wir aber auch aus politischen Überlegungen:

Im privaten Bereich geht es um den eigenständigen Wert des Menschen, um seine zwischenmenschlichen Beziehungen, um Werte wie Liebe und Solidarität. Im wirtschaftlichen Bereich geht es aber um Konkurrenz, Wettbewerb, Übertölpelung und Kampf. Das sind zwar auch anerkannte Werte, doch sie werden nicht durch das Recht auf Privatheit geschützt.)

Ende der juristischen Zwischenbemerkung.

 

4. Die Bedeutung der Privatsphäre in der Demokratie

Die Demokratie selber hat keine Privatsphäre, ist aber angewiesen auf Bürger, die ihre Geheimsphäre auch für das Gemeinwesen nutzen, weshalb diese geschützt werden muss.

  • Ein demokratischer Staat hat keine Geheimsphäre

Die res publica ist per Definition öffentlich. Der Staat als solcher hat keine Geheimsphäre gegenüber seinen Bürgern. Dennoch gibt es Konflikte:

-         Etwas anderes ist es gegenüber seinen Vertragspartnern, gegenüber anderen Staaten. Da muss er Interna hüten, um seine Interessen - und diejenigen seiner Bürger - wahren zu können. Das führt zu Konflikten mit der Transparenz gegenüber den Bürgern und wird mit der repräsentativen Offenlegung gegenüber GPKs etc gelöst.

-         Die Forderung nach Öffentlichkeit kann mit der Privatsphäre einzelner Bürger kollidieren, bei der Transparenz von Direktzahlungen in der Landwirtschaft zu Beispiel: Die beglückten Bauern pochen auf ihre Privatsphäre. Der Regierungsrat des Kantons Bern stellt sich hinter sie, das Bundesamt für Landwirtschaft ebenfalls, doch der eidgenössische Datenschutzbeauftragte fordert Transparenz über die 2,8 Milliarden Franken, die jährlich an 50'000 Betriebe verteilt werden.

Die res publica, der Staat als die öffentliche Sache, ist der Grundgedanke des Öffentlichkeitprinzips.

Zum Herz der Demokratie gehört daher die Transparenz von Parteispenden und der Abstimmungsfinanzierung. Sie haben einen wesentlichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments, auf die Meinungsbildung aller, die den Staat gestalten.

Ich beging zu Beginn meiner Amtszeit die Unvorsichtigkeit, in einer Rede über Medien von der „Intimsphäre des Staates“ zu sprechen. Die geharnischten Reaktionen darauf waren natürlich berechtigt.

Richtig hätte ich sagen sollen, die Mitglieder des Bundesrats haben das Recht, ihre Überlegungen zu einem bevorstehenden Entscheid zunächst untereinander ohne Öffentlichkeit auszutauschen und dabei auch Gedanken zu wagen, die sofort zu verwerfen sie bereits sind, die sie vielleicht nur auf ein Gegenargument abchecken wollen, um dann später den Entscheid des Kollegiums zu vertreten. Nach wie vor bin ich der Meinung, es müsste dieser freie Gedankenaustausch auch ohne Protokollierung möglich sein und geschützt werden.

  • Die Geheimsphäre der Bürger als Voraussetzung für die Demokratie

Genau dieses Recht kommt aber allen zu, die den Staat gestalten, nämlich das Recht auch auf rebellische Gedanken, ohne dass diese erforscht und fichiert werden. Sie dürfen auch geäussert werden, ohne dass man gleich zum Staatsfeind deklariert wird:

(Ich bin mit dem Aufruf der SVP, die Gemeinden sollten gegen die Asylpolitik aktiven Widerstand leisten, absolut nicht einverstanden, doch hat die SVP das Recht, solche Gedanken zu äussern, so lange sie nicht zu Gesetzwidrigkeiten aufruft.)

Die Geheimsphäre ist einerseits ein Menschenrecht, aber sie ist auch die Grundlage für den demokratischen Staat selber.

Gelebte Individualität ist für die Gestaltung und Erneuerung des Staates unabdingbar. Da gehört queres Denken und anderes Leben dazu:

Neue Lebensformen, Erforschung neuer Grenzen, neue Erfahrung, andere Religionen, anderes Verkehrsverhalten. So ist eine neue politische Gemeinschaft in den letzten 30 Jahren entstanden.

(Gewiss: Der private Individualismus kann für die Demokratie auch schädlich sein und sie unterhöhlen: Spass, Desinteresse statt Solidarität. Kalkül des Nutzens, Egoismus. Dennoch muss die freie Lebensgestaltung im Interesse der Menschen garantiert werden.)

 

5. Die digitale Mündigkeit muss daher geschützt, aber auch  wahrgenommen werden

Die Demokratie ist auf aufgeklärte, informierte Bürger und Bürgerinnen angewiesen. Teil ihrer politischen Mündigkeit bildet die so genannte digitale Mündigkeit.

Diese besteht in erster Linie gar nicht in technischem Wissen und auch nicht nur auf dem emanzipierten Umgang mit dem Internet, sondern sie fusst auf dem Wissen und Wahren der menschlichen Würde überhaupt.

Das vermissen wir zuweilen bei der Generation Castingshow, die ihre intimsten Gefühle vor einem Millionenpublikum vermarktet, sich erniedrigt und der Lächerlichkeit preisgibt.

Die Normen, die der Staat zum Schutze der Privatsphäre anwenden muss, sind als die Grundsätze individueller Würde in unserer Gesetzgebung auf ganz einfache und klare Weise festgehalten.

Es gibt im ZGB (Art. 27) und im OR (Art.  20) den Begriff der unsittlichen Verträge, welche nichtig sind, wenn sich jemand seiner Freiheit entäussert: Niemand darf sich für das ganze Leben einem Vertragspartner ausliefern (Klosterverträge).

Ewige Bindung

Wir können in einem früheren Zeitpunkt noch nicht beurteilen, wie wir uns dereinst mit einer tödlichen Diagnose fühlen und können uns daher nicht zu einer Freitodvereinbarung verpflichten. Ebenso können Jugendliche nicht wissen, was ihr fröhlicher Spontaneintrag gegenüber vermeintlichen Freunden dereinst für ihre berufliche Karriere für Folgen haben wird.

Das Netz multipliziert und es verewigt. Dies potenziert einen einmaligen Eintrag: Er bleibt in alle Ewigkeit bestehen und er einer unvorstellbaren Anzahl von Menschen zugänglich.

Das Recht auf Vergessen

Das widerspricht dem Recht auf Vergessen als Bestandteil der selbständigen Lebensgestaltung und des Zusammenlebens.

Vergessen ist notwendiger Bestandteil einer Gemeinschaft.

-         Die Fehde musste durch die Institution von aussen stehenden Richtern überwunden werden.

-         Die ewige Rache für ein Unrecht, das einem Menschen oder einem  Volk angetan wurde, muss überwunden werden und gehört zu aktiver Friedenspolitik.

(Akte, die wir beim Amselfeld oder bei dem Konflikt im nahen Osten vermissen.)

-         Interneteinträge müssen daher auch wieder gelöscht werden können. Das gestattet Wikipedia nicht. Bei Google gibt es ein Gerichtsurteil, aber das muss zu Unrecht noch in jedem Einzelfall erkämpft werden.

Das Recht, nicht alles wissen zu müssen

Zur Würde des Menschen gehört, die Wahrheit über sich selber nicht kennen zu müssen. Er darf sie kennen, wenn er will. Aber es gibt ein Recht darauf, nicht alles über den eigenen Gesundheitszustand wissen zu müssen. Die Wahrheit über eine Diagnose kann ihn in seinem Leben mehr beeinträchtigen als der spätere Eintritt der Krankheit selber. Wenn also Krankenkassen oder Ärzte über uns Daten kennen, die wir zwar wissen dürfen, heisst das nicht, dass sie uns gegen unseren Willen aufgedrängt werden müssen.

 

6. Systemische Massnahmen gegenüber den immanenten Gefahren des Netzes

Alle diese Rechte muss der Staat oder die Staatengemeinschaft nicht nur zivilrechtlich im ZGB und OR garantieren, sondern auch praktisch im real existierenden Netz.

Er darf die Individuen nicht einfach auf einen Klageweg verweisen, den er selber gar nicht kennt, weil er so kompliziert und undurchsichtig ist. Gestützt auf unser OR kann an Schweizer Gerichte gelangt werden. Internationale Sachverhalte, die Klagemöglichkeiten und die Durchsetzung sind schier unmöglich und lassen den Anspruch auf Geheimsphäre zur Illusion verkommen. Hier gilt nur das Recht der stärkeren Trickser, die das Powerplay um die Geheimsphäre bis jetzt eindeutig für sich allein entschieden haben.

Wenn wir wenigstens fremde Richter hätten!

Aber da wir sie nicht finden können, müssen die globalen Giganten reguliert werden.

Es wird befürchtet, dass dem Internet das Potential zu einer totalitären Macht innewohnt und dies ist für die Demokratie von zentralster Bedeutung und ruft zu Wachsamkeit. Es besteht in der Tat die Gefahr, dass diese Macht, auch wenn sie jetzt gar keinen Schaden anrichtet und daher akzeptiert wird, eines Tages auch tatsächlich genutzt wird,

-         dass wir uns also , wie es Max Weber schon ausdrückte, in einem „Gehäuse der Hörigkeit“ gefangen genommen werden,

-         dass wir  unsere Entscheidungsvarianten nur noch den Programmierern delegieren,

-         dass sich die jetzt noch freiwillig beanspruchten Dienstleistungen (M2M) in bevormundenden Freiheitsentzug wandeln könnten, dass uns also nicht nur mitgeteilt wird, es habe keine Milch mehr im Kühlschrank, sondern dass uns auch gleich diejenige Milch nachgeliefert wird, die ein Milchkonzern aus irgendwelchen Eigeninteressen los werden will, dass ein selbstfahrendes Auto durch Hacker gestoppt werden kann

Schon jetzt wird deshalb zu Widerstand, etwa zu unwahren Angaben geraten. Gegen jede neue Technologie gibt es Befürchtungen, dass sie missbraucht werden könnte. Die Reaktion dürfen nicht Verbote oder Sabotage sein, sondern die Missbräuche zu verunmöglichen. Auf nationaler Ebene bestehen solche Normen. Die Herausforderung ist, die politischen Normen so zu globalisieren, wie sich die Internetkonzerne längst schon globalisiert haben.

 

7. Die aufgeklärte Nutzung des Netzes

Parallel dazu braucht es jedoch den aufgeklärten mündigen Umgang im digitalen Raum.

Wir müssen lernen, die Preisgabe von Daten in ein Verhältnis zur gebotenen Leistung zu setzen und die Gefahren des Missbrauchs richtig einzuschätzen, also weder zu ignorieren, noch zu dämonisieren.

Es gibt zuweilen schon fast verzweifelte Warner vor den Missbräuchen der Geheimdienste und der privaten Erforschung des Kundenverhaltens. Sie können die Gleichgültigkeit der Konsumenten und Bürger nicht fassen.

Doch es ist wie im Strassenverkehr: Wenn wir als Fussgänger ständig in Angst leben, von einem unkorrekte fahrenden Automobilisten überfahren zu werden, könnten wir gar nicht mehr auf die Strasse.

Wir sollen ja auch nicht vorschnell jede Erhebung von Daten als missbräuchlich sehen, sondern darauf achten, wie sie verwertet werden.

(Ein Vermieter oder Arbeitgeber kann sich mit der Frage über Religion, Lebensgewohnheit wie Autobesitz des Bewerbers ja gerade für eine Minderheit verwenden wollen oder eine ideelle Durchmischung in seiner Belegschaft oder Wohnsiedlung anstreben.)

Die digitale Abkapselung würde uns zudem soziale, kommunikative und wirtschaftliche Nachteile bringen. Ohne eine stete Durchdringung von know how und von Wissen könnten wir an der Entwicklung der Welt gar nicht teilhaben.

Wenn sich dieses differenzierte  Bewusstsein etabliert, kann eine weitere Erkenntnis dann auch sein, dass unsere Daten eigentlich uns gehören, die wir sie durch unsere Nutzung des Internets und des Smartphones ja auch produzieren.

Ist es gerecht, wenn andere mit unserem Verhalten  Geld verdienen? So wie es Autorenrechte oder Patente gibt, so könnte ja auch der Datenproduzent seine Eigentumsrechte einfordern. Damit solche Erkenntnisse auch mehrheitsfähig werden, braucht es aufklärerische Arbeit.

Die Datenschutzbeauftragten fördern diese Prozesse und bringen uns durch ihre Arbeit der digitalen Mündigkeit etwas näher.

-         Sie verweisen sowohl auf die Gefahren , die durch die Aushöhlung der Geheimsphäre entstehen,

-         als auch mahnen sie zu Transparenz (wie bei den Direktzahlungen).

-         Sie lernen uns so, unsere Privatsphären - Hula-Hopp - Reifen nicht dem ganzen All zu öffnen und so Google und Facebook als allwissende Götter zu akzeptieren, denen wir ohnehin nichts verbergen können.

-         Und sie ermöglichen uns so, unsere Identität nicht in der eigenen Faust verkümmern zu lassen und zu zerknüllen.

Sie lernen uns, unsere Autonomie zu nutzen und nicht degenerieren zu lassen,

(den Willen der Internetgötter nicht „autonom nachzuvollziehen“, wie sich all diejenigen ausdrücken, die ihr eigene Abhängigkeit nicht wahrhaben wollen).

Sie führen stellvertretend für uns den nötigen Kampf gegen die Giganten, die uns mit dem Netz umgarnen. Sie sind die Davids im Kampf gegen die Googliaths.

Dafür danke ich Ihnen.