Henri Dunant, Lampedusa und die Schweiz
Henri Dunant
Jubiläumsfeier zum 103. Todestag - Heiden, 30. Oktober 2013
Wir gedenken heute an dieser Stätte zum 41. Mal des Todes von Henri Dunant. Es ist dies kein runder Todestag. Aber ein rundes Jubiläum können wir dennoch feiern: Heute vor sehr genau 150 Jahren gründeten16 Staaten in Genf das Rote Kreuz. Henri Dunant hatte die Vorarbeit als Sekretär des Internationalen Komites für die Pflege von Verwundeten geleistet.
Wichtiger als eine runde Jubiläumszahl ist aber der aktuelle Inhalt des Anlasses und vor allen, was wir daraus machen.Es gibt auch Erinnerungen, die werden wach gehalten, um Hass und Unfrieden am Leben zu erhalten. Es gibt Gedenkfeiern an Schlachten, die werden genutzt, um über Generationen hinweg Feindseligkeiten zu pflegen. Das sind Jubiläen, die wieder böse Taten und Krieg gebären.
Das Gedenken an die Schlacht auf dem Amselfeld war eine der Gründe des Balkankrieges. Wir können aber an eine Schlacht auch so zurückdenken, dass wir uns vornehmen, es dürfe niemals mehr soweit kommen, nicht zu den Folgen, wie sie Henri Dunant sah, aber auch nicht zu den Ursachen selber, nämlich nicht zum Krieg.
Es muss auch gar nicht immer eine Schlacht sein, an die wir zurückdenken, es kann auch eine Tat sein, die, wie die Gründung des Roten Kreuzes, Elend eindämmte, oder die gar einen Krieg verhinderte.
Eine solche Tat war die Trennung der beiden Appenzell. Sie verhinderte einen blutigen Konfessionskrieg. Indem wir uns das immer wieder, auch nach 400 Jahren in Erinnerung rufen, zeigen wir, dass es eben auch politische Möglichkeiten gibt, Kriege zu verhindern.
Die Gründung der EU war auch eine solche politische Massnahme gegen den Krieg in Europa. So können wir uns heute kaum vorstellen, dass, wie bei der Schlacht von Solferino, Österreich und Frankreich gegeneinander in eine Schlacht ziehen würden.
Henri Dunant sah die Schlacht von Solferino und ihre Folgen persönlich. Das Grauen, das sich unmittelbar vor seinen Augen abspielte, war Anlass für sein grosses Werk für die Menschlichkeit.
Das zeigt: Je näher wir ein Unglück oder eine Ungerechtigkeit erleben, desto betroffener sind wir.
Sagen wir es ganz brutal: Der Tod des eigenen geliebten Haustieres geht uns näher als die Schlagzeile eines Eisenbahnunglücks mit hundert Toten auf einem anderen Kontinent. Mit der Distanz erlahmt unser Mitgefühl und damit auch unser Verantwortungsgefühl.
Charlie Chaplin sagte: Wenn du eine Rauferei in „der Totalen“ siehst, musst du lachen. Siehst du sie in einer Nahaufnahme, hast du Mitleid.
Die Bürgermeisterin von Lampedusa hat diesen Effekt erkannt. Sie verlangte, dass all die toten Flüchtlinge in ihren Säcken am Ufer gefilmt und in allen TV Kanälen gezeigt werden, damit die Welt wachgerüttelt werde.
Tatsächlich ist dann ein Ruck durch Europa gegangen.
Dennoch bleiben die Reaktionen unterschiedlich: In Italien wurden alle Fahnen auf Halbmast gestellt und in den Schulen wurde eine Schweigeminute angeordnet. Nichts davon in der Schweiz, obwohl wir ja auch im Schengenabkommen sind und uns Lampedusa auch etwas angeht.
Wir leben heute in einem anderen Kommunikationszeitalter als Henri Dunant. Die Nahaufnahmen sehen wir dank TV und Internet selber am eigenen Bildschirmzeigen. Wir wissen, was in der Welt geschieht, auch wenn die Kameras nicht überall sind, wo es Leid und Elend gibt.
Aber Lampedusa lässt uns, selbst aus der weiten Entfernung „der Totalen“, die Folgen vorangegangenen Elends sehen.
So wissen wir um die Kriege in Afrika. Wir wissen um die blutigen Kämpfe um Wasser. Wir wissen, wie Militärdienstverweigerer in Eritrea behandelt werden und wir wissen auch, wozu sie benutzt werden, wenn sie für den Krieg eingezogen werden. Kürzlich haben wir in der Schweiz den Asylgrund der Kriegsdienstverweigerung abgeschafft! Der Grund war, dass wir weniger Asylsuchende aufnehmen wollen.
Wir wissen aber auch, dass der grosse Teil der Opfer von Lampedusa eben gerade solche Kriegsdienstverweigerer aus Eritrea waren.
Dass wir das ganz gerne verdrängen, ist das eine.
Das andere ist, dass es ausdrücklich legitimiert wird.
Der Chefredaktor der Weltwoche, ein gesuchter Schweizer Journalist in deutschen TV Kanälen, sagte dort, Afrika solle sich selber überlassen werden; die Auswanderer gingen uns nichts an.
Das ist eine Verhöhnung der Grundsätze von Henri Dunant, nämlich sich für andere Menschen einzusetzen, die von Leid betroffen sind und die sich gegen den Krieg stemmen. Das wiegt umso schlimmer, wenn wir wissen, welche Schuld Europa, auch die Schweiz, gegenüber Afrika und seiner kolonisierten Geschichte trägt.
„Afrika soll sich zuerst mal selber in Ordnung bringen.“ Das ist wie wenn Henri Dunant in Solferino gesagt hätte: „Was sollen wir uns um diese Verletzten kümmern? Die Regierungen sollen zuerst mal aufhören, Krieg zu führen.“
Ich gebe zu, es stört mich ganz besonders, weil die Haltung des Chefredaktors der Weltwoche in Deutschland kurzerhand als Schweizer Standpunkt wahrgenommen wird. Vom guten Ruf des Roten Kreuzes zehrt unser Land oft. Umgekehrt bringt uns Zynismus dieser Art in Verruf. Er lässt in den Hintergrund treten, dass wir nach wie vor tatsächlich auch Vieles leisten, um Elend zu lindern und zu verhindern. So will die Schweiz Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen (850), sie will Flüchtlinge aufnehmen die vom UNO Hochkommissariat aus Lagern zugeteilt werden (500). Wir beteiligen uns an Frontex, die letztes Jahr immerhin 40 000 Bootsflüchtlinge gerettet hat.
Und wir setzen uns auch gegen tiefere Ursachen von Kriegen ein:
Wir arbeiten mit an den Millennium Goals der UNO (Verringerung der Armut) mit oder wir fördern die Entwicklungszusammenarbeit. Wir sollten auch die Handelsregeln so ändern, dass der Rohstoffabbau nicht nur den westlichen Ländern Gewinn bringt, sondern auch der Bevölkerung in den betroffenen Ländern. Die Schweiz spielt in diesem Bereich eine zentrale Rolle, weil bei uns die wichtigsten Rohstoffunternehmen ihren Sitz haben.
Natürlich wirken solche Massnahmen nicht sofort und natürlich ist das alles komplex und kompliziert. Wir hätten doch alle gern eine Lösung, eine einfache Lösung. Auch Henri Dunant hätte lieber gehabt, es gebe keine Kriege. Aber die Kriege fanden eben statt und er wollte sich um die Folgen kümmern. Der Verweis auf komplizierte Zusammenhänge der Globalisierung, die Hoffnung auf eine Utopie kann eben auch zur achselzuckenden Ausrede verkommen, wenn wir uns nicht gleichzeitig um die Menschen, die tatsächlich und konkret Not leiden, kümmern.
Es gehört zu einer ehrlichen Politik, anzuerkennen, dass es nicht für alles schnelle Lösungen gibt, ja dass es für manche Schrecklichkeiten auf unserer Welt zunächst gar keine Lösung gibt.
Umso wichtiger ist, die Mitmenschlichkeit gegenüber den Opfern zu wahren. Katastrophen wie Lampedusa müssen uns aufrütteln, so wie Solferino Henri Dunant aufgerüttelt hat.
Und Jubiläen, seien es solche mit geraden oder ungeraden Jahreszahlen, rufen uns diese Grundsätze regelmässig in Erinnerung. Ich danke Ihnen deshalb, dass Sie diese Feier jedes Jahr durchführen.