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Wie heisst der Plural von Schmuck?


Moritz Leuenberger - Rede an der Uhren- und Schmuckmesse BASELWORLD, 18. März 2010

Die Sitten der Abordnung von Bundesräten an schweizerische Messen sind beinahe so unergründlich wie das Schweizer Regierungssystem selber:
  • So müsste man doch meinen, an den Automobilsalon gehöre der Verkehrsminister. Aber nein, das Kriterium ist ein anderes, eingeladen wird konsequent nur der Bundespräsident. Nur er oder sie darf sich mit schnittigen Automobilen schmücken und ablichten. Der Grund? Ein Schweizerischer Bundespräsident braucht, weil es jedes Jahr ein anderer ist, besonders auffällige Schmuckstücke, um als solcher erkannt zu werden.
  • Oder: Man müsste doch meinen, an die Landwirtschaftsmesse, die OLMA, gehöre die Landwirtschaftsministerin. Doch das Kriterium ist ein anderes: Es gehen diejenigen Minister, die gerne ein lebendes Schwein als Schmuckstück herumtragen.
  • Und warum wird an die Uhren- und Schmuckmesse der Infrastruktur- und Umweltminister eingeladen? Er ist für den Schmuck des Landes verantwortlich, nämlich für eine intakte Umwelt, geschmückt mit zierlichen Brücken und schmucken Tunnels.
  • Trotzdem: Ich kämpfte ein halbes Bundesratsleben lang, bis ich kommen durfte. Kein Argument half. In meinem 15. Jahr argumentierte ich dann mit der Uhr in Schillers Wilhelm Tell: „Mach deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt, deine Uhr ist bald abgelaufen".
  • Das leuchtete ein und so durfte ich denn endlich kommen.
  • Und so begreife ich jetzt den Unterschied: Am Automobilsalons hat es Alphas, an der Uhrenmesse Omegas.
 

In der Vergangenheit wurde allerdings meist der Wirtschafts- oder Finanzminister delegiert: weil Uhren und Schmuck Handelswaren sind, Exportkoeffizienten, volkswirtschaftliche Trümpfe. Von dieser Messe aus werden „Wirtschaftsoffensiven" gestartet, wie das 2005 der Fall war. Und tatsächlich: An einer Messe lassen sich wirtschaftliche Grundregeln entdecken. So beweist die Uhren- und Schmuckmesse: Eine Weissgold-Strategie sieht nicht nur gut aus, sie macht sich auch bezahlt.

Doch wir wissen es alle: Schmuck ist mehr als ein ökonomischer Wert.

Und eine Messe ist mehr als eine Ansammlung von Gütern.

Schmuck unterstreicht die Individualität

Mit Schmuck verbinden wir Einzigartigkeit, Individualität, ja, Identität. Es ist kein Zufall, dass das Wort nur im Singular existiert.

  • Mit einem Ehering markieren wir uns als verheiratet;
  • mit einem Kreuz signalisieren wir unseren Glauben;
  • Mit Piercingschmuck brandmarken wir uns als besonders leidensfähig;
  • Eine wahnsinnig dicke Uhr ist ein klarer Hinweis auf den letzten Bonus. Deswegen wird sie auch vor den Manschetten getragen und nicht innerhalb des Hemdärmels. Ich weiss, das ist polemisch. Den wirklichen Grund kenne ich bestens: Wir tragen die Uhr vor den Hemdsärmeln, damit wir unauffällig auf die Uhrzeit spähen können, wenn sich eine Sitzung in die Länge zieht.

Mit Schmuck typisieren wir uns also, grenzen wir uns ab.

  • Gleicher Schmuck für alle, das wäre nicht Schmuck, sondern eine Uniform.
  • Deshalb lieben wir Einzelanfertigungen ganz besonders.
  • Deshalb brechen Damen regelmässig ohnmächtig zusammen, wenn an einem Anlass eine andere dasselbe Kleid trägt.
  • Mit Schmuck geben wir etwas Preis von uns: Wir zeigen, wie wir gerne wären, wie wir gerne gesehen würden.

Schmuck ist eine ästhetische Umschreibung unserer Identität.

Die Messe sucht die Masse

Und diesen Inbegriff der Individualität feiern wir hier in Basel an einer Messe, die weltweite Masse angenommen hat.

  • Vor dem zweiten Weltkrieg war sie noch eine „Schweizer Uhrenmesse".
  • Nachher öffnete sie sich zu einer europäischen Messe.
  • Nach dem Fall des eisernen Vorhanges öffnete sie sich für aussereuropäische Aussteller. Gleichzeitig trat die Globalisierung ihren Siegeszug an.
  • Und so ist die Baselworld heute eine globale Messe und bereits streckt sie ihre Fühler zum Kosmos aus:
  • Wir befinden uns jedenfalls in der Hall of Universe.

Gigantische Zahlen zeichnen sie aus:

  • 100'000 Besucher,
  • 2'000 Aussteller aus
  • 45 verschiedenen Ländern.
  • Doch eine Zahl macht einem Politiker besonders Angst: 2'973 akkreditierte Journalisten.

Die Messe sucht die Masse. Dann erst ist sie erfolgreich.

Ist aber eine globale Messe für individuellen Schmuck nicht ein Widerspruch in sich selber?

Die Baselworld birgt das politisch wichtigste Spannungsfeld unserer Zeit in sich - Globalisierung und Individualität.

Ertragen sich die beiden?

Globalisierung bedroht die kulturelle Identität

Wer weltweiten Handel betreibt, freut sich an der Globalisierung. Er verspricht sich neue Ufer, neue Möglichkeiten, um seine Ware abzusetzen.

Doch viele finden sich in der globalisierten Welt nicht zurecht, weil Ordnungen aufgelöst werden und Bindungen verloren gehen. Sie sind überfordert und verunsichert.

Ängste beklemmen die Menschen, Herz und Geist werden eng. Sie suchen Halt und Orientierung an nationalen Klischees und Symbolen. Diese Ängste können zu Abschottung führen, zu Isolationismus, zur Gegenkraft gegen die Globalisierung. Nach der Öffnung, die der Fall des eisernen Vorhanges ermöglichte, droht der Rückfall, der Clash der Kulturen.

Die Schweizer Stimmbevölkerung hat vor einigen Monaten die Minarett-Initiative angenommen. Die Regierung und die meisten Parteien waren gegen diese Initiative, ebenso die Wirtschaftsverbände, allerdings nicht gerade mit Vehemenz. Die Ängste vor der Globalisierung wurden unterschätzt. Dennoch stehen wir heute alle in der Verantwortung für diesen Entscheid, also auch jene, welche sich gegen die Initiative aussprachen.

Die angenommene Minarett-Initiative richtet sich auch gegen die Wirtschaft. Werden Konflikte zwischen den Kulturen angeheizt, hindert dies die wirtschaftliche Entfaltung. Die Wirtschaft, auch diejenige, die mit Uhren oder Schmuck handelt, hat daher alles Interesse, dass die Kulturen und Religionen sich gewaltfrei miteinander auseinandersetzen.

Wenn die Wirtschaft Parteien toleriert, die den Hass und die Ängste schüren, wenn sie sie sogar finanziell unterstützt, untergräbt sie ihre eigene Grundlage. Kultureller Friede ist die wichtigste Infrastruktur für den Handel.

Allerdings, ich weiss, ist auch der Handel Voraussetzung für kulturelle Verständigung. Die eine Grundlage bedingt die andere. Deswegen erschöpft sich wirtschaftlicher Austausch nicht in blosser Gewinnoptimierung. Handel ist immer auch ein Gespräch zwischen Menschen, und, wenn er global betrieben wird wie heute, mit anderen Kulturen.

Basel hat Nein zur Minarettinitiative gestimmt, und da hat die Weltoffenheit dieser Stadt, die sich eben auch in Messen wie der Baselworld zeigt, eine Rolle gespielt.

Es ist dabei gar nicht nur falsch, dass wir uns von anderen Kulturen auch abgrenzen. Denn Identität bildet sich auch in der Negation. Kleine Kinder können zuerst mal nein sagen, erst später ja. (Es gibt Parteien, die lernen es überhaupt nie.)

Gegenstück dieser Abgrenzung ist der Respekt gegenüber anderen Kulturen.

Das ist leicht gesagt. In Wirklichkeit ist das ein anspruchsvoller Prozess; denken wir z.B. an die ewig hitzigen Debatten über die Integration von Ausländern oder die kontroversen Diskussionen über Kopftücher, Burkas oder eben Minarette.

Wie kann er denn gelingen, der Dialog der Kulturen? Oder:

Gibt es Geborgenheit in einer globalisierten Welt?

Wenn wir vom Dialog der Kulturen sprechen, von der Begegnung der Kulturen, so ist das in Wirklichkeit doch immer eine Begegnung zwischen Menschen. Die „Kulturen", die „Religionen", das sind abstrakte Begriffe. „Sich begegnen", „reden", das tun die Menschen.

  • Hier in der Hall of Universe wollen wir uns in Erinnerung rufen:

Nur mit menschlichem Mass kann die Globalisierung gelingen.

  • Hier in der Stadt des Humanismus wollen wir uns in Erinnerung rufen:

„Kosmos" hat eine doppelte Bedeutung: Er meint nicht nur Weltall, sondern auch Schmuck, Zierde (Kosmetik) und - Anstand und Ordnung. Er meint eben gerade nicht grenzenlose chaotische Beliebigkeit.

Ich habe als Politiker in anderen Ländern schon sehr gestaunt, mit welch vordergründiger Zielstrebigkeit westliche Geschäftsleute im Gespräch mit Handelspartnern im Nahen und Fernen Osten subito auf Zahlen, auf ihre Zahlen, zu sprechen kamen, ohne zunächst einen gemeinsamen kulturellen Boden zu ebnen.

Schmuck- und Uhrenhändler können da nur den Kopf schütteln, nie würden sie so vorgehen, denn sie wissen:

Ursprünglich bedeutet das Wort Schmuck „schmiegen", „anschmiegen", „umarmen"; sich in ein Kleid „schmücken", pflegte man zu sagen. „Schmucke" heisst auf Zürichdeutsch heute noch „anschmiegen". „Under d Bettdecki schmucke" heisst: Unter der Bettdecke Geborgenheit suchen. Das Wort Schmuck sagt es: Zuerst kommt der Mensch, dann die Welt.

Schon deswegen darf die Globalisierung nie zu einer Einheitskultur führen. Unsere Erde darf nicht zum Flughafenshop verkommen, wo nur Einheitsschmuck angeboten wird.

Wir suchen nach Schmuck, der unsere Einzigartigkeit, unsere Individualität betont.

Und wir möchten eine Globalisierung, die diese Identität nicht bedroht.

Das bedeutet auch eine Globalisierung, welche sich mit menschlichem Tempo entwickelt, damit gesellschaftliche Veränderungen uns nicht überfordern. Ist das Tempo zu hoch, sperren und wehren sich Menschen gegen Veränderungen.

Es ist gar nicht immer so schlecht, dass das politische System der Schweiz etwas langwierig ist mit seinen Vernehmlassungs-, Konsultations- und Differenzbereinigungsverfahren. Eine neue Idee braucht manchmal Zeit, um allseits akzeptiert zu werden. (Die Bankeninitiative zur Abschaffung des Bankgeheimnisses wurde z.B. vor 30 Jahren lanciert.)

Ist nun also eine weltweite Messe über Schmuck ein Widerspruch in sich selbst? Sie ist es so lange nicht, als hier Menschen den Dialog pflegen mit Menschen aus anderen Kulturen und sich darüber unterhalten, wie denn die Uhren beim andern so ticken. Sie ist es solange nicht, als die Aussteller und Händler wissen: Kultureller Friede ist die wichtigste Infrastruktur für den Handel.

Schmuck ist ein Wort, das nur im Singular vorkommt und keinen Plural kennt (ein so genanntes Singularetantum). Das war früher auch das Wort Kultur. Erst der Basler Jacob Burckhardt wagte den Plural und sprach von Kulturen. Das war zur Zeit der ersten Weltausstellungen in London und Paris, als die Menschen andere Kulturen „besichtigen" konnten; auch das waren ja eine Art Messen.

An der Baselworld werden unzählige Muster für unzählige Kopien ausgestellt. Hier hat der Schmuck einen Plural. Wer weiss, vielleicht wird der Plural von Schmuck dank dieser Basler Messe in die Sprache eingeführt und damit in die Globalisierungsdebatte. Dann wird auch historisch der Beweis erbracht sein, dass die Baselworld nicht nur der Vermögensakkumulation dient, sondern der Verständigung der verschiedenen Kulturen und damit einen Beitrag leistet zu einer Globalisierung mit menschlichem Antlitz.

Und wie werden wir diesen Plural von Schmuck aussprechen?

Dazu starten wir einige Vernehmlassungs-, Konsultations- und Differenzbereinigungsverfahren. Eine neue Idee braucht manchmal Zeit, um allseits akzeptiert zu werden.

Doch die Antwort ist im Grunde genommen schon heute klar. Der Plural von Schmuck heisst Baselworld.