Navigation ausblenden

Eröffnung Vereinatunnel


Eröffnung Vereinatunnel

Klosters-Selfranga, 19. November 1999


Der Vereinatunnel ist ein durch und durch eidgenössischer Tunnel,

ein verbindender Tunnel,

ein Tunnel freundeidgenössischen Protestes,

ein Tunnel eidgenössischen Fortschrittglaubens,

ein Tunnel eidgenössischer Skepsis und Hoffnungen,

ein Tunnel gut eidgenössischen Kompromisses, - kurz,

ein Tunnel typisch eidgenössischer Politik.



Ein eidgenössischer Tunnel


Der Vereinatunnel verbindet nicht einfach zwei Täler, Prättigau und Unterengadin. Er verbindet zwei Sprachregionen, zwei Kulturen, eine Region, die schon heute stark touristisch geprägt ist, auf der einen Seite mit einer Region, die ihren Tourismus noch entwickeln möchte, auf der anderen Seite. Beide Regionen möchten aber Ruhe und intakte Landschaften nicht nur ihren Gästen bieten, sondern auch für sich selber in Anspruch nehmen. Beide sind sie aufeinander angewiesen. Beiden dient der Vereinatunnel.


Die Schweiz besteht aus lauter Minderheiten:


Aus sozialen Minderheiten: Arbeitslose, Abhängige, Arme (und auch die Reichen sind in ihren Schlössern manchmal einsam).


Aus sprachlichen Minderheiten: die Rätoromanen die Romands, die Italienischsprechenden (und auch die Zürichdeutschsprechenden kommen sich, je nachdem, wo sie sich aufhalten, manchmal etwas blöd vor).


Aus regionalen Minderheiten: Nordwestschweizer, Südostschweizer, Bergstädter und Taldörfler, Schwamendinger (und wer keiner regionalen Minderheit angehört, leidet an Identitätskrisen und muss zum Psychiater).


Es ist immer wieder von den Gräben die Rede, welche diese Minderheiten trennen: Röstigraben, Polentagraben, Bratwurstgraben. Und ich habe auch schon vom Capunsgraben gehört.



Ein verbindender Tunnel


Zur Überwindung dieser Gräben fordern Politiker landauf - landab nicht etwa Brücken - sondern Tunnel: Hirzel, Lötschberg, Gotthard, Vereina. Tunnel sind das Symbol zur Beschleunigung der Geschwindigkeit, Symbol zur Überwindung von Distanzen. Es gibt zwar auch andere Möglichkeiten dazu, die Telekommunikation, das Fernsehen, das Internet, doch der Tunnel bleibt die sichtbare Durchbohrung eines Hindernisses, die uns erlaubt, einander nicht nur virtuell, sondern auch physisch näher zu kommen.


Tunnel sind deswegen auch ein Symbol des politischen Grundverständnisses der Eidgenossenschaft, dass keine Region gegenüber der andern benachteiligt sein soll, dass alle die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten haben müssen, dass jede Minderheit dieselben Rechte und Chancen haben soll wie die anderen. Der Vereinatunnel verbindet die deutschsprachige Schweiz mit der rätoromanischsprachigen Schweiz, verbindet eine Region, die von Arbeitslosigkeit und Abwanderung bedroht ist, mit der übrigen Schweiz, verbindet eine ländliche Region mit der städtischen Schweiz, von der sie aus topographischen Gründen saisonal, nämlich im Winter, abgeschnitten war.



Ein Tunnel freundeidgenössischen Protestes


Manchmal werden die eidgenössischen Gräben auch gerne etwas gepflegt, um auf die eigene Position aufmerksam und denen in „Bern“ Beine zu machen:


Einige Unterengadiner haben höflich, aber laut gesagt, wie gerne sie doch hätten, ich würde den Festakt vollständig mitfeiern, also mit der Tunnelfahrt und einem Aufenthalt im Unterengadin. Wie wohl hat mir doch der guteidgenössische Protest aus dem Unterengadin getan: Nicht immer und überall ist ein Bundesrat so willkommen. Deshalb habe ich mich jetzt anders entschieden: Ich fahre mit ins Unterengadin.



Ein Tunnel eidgenössischen Fortschrittglaubens


Der Tunnel gilt als Symbol für „Fortschritt“.


Doch was ist „Fortschritt“? Fortschritt ist immer auch „Schrittfort“, ein Schritt fort vom Vertrauten! Ist die Zukunft besser als die Vergangenheit? Ist es nicht so, dass wir der Vergangenheit immer auch ein wenig nachtrauern, einer Vergangenheit ohne Automobile (der Kanton Graubünden hat die Automobile verboten, als sie aufkamen, vor allem für Auswärtige), einer Vergangenheit, in der doch alles besser und schöner war als heute? Bewundern wir die Bündner Zuckerbäcker nicht gerade deswegen, weil sie, lange bevor die Eisenbahnen gebaut wurden, den Mut fanden, bis nach Petersburg und Moskau auszuwandern und im grossen Zarenreich mit ihren kleinen Kunstwerken aus Marzipan und Schokolade für ihren fernen Heimatkanton Ehre einzulegen? Lieben wir den Schellenursli nicht auch, weil er in einer anderen Zeit lebte und ihm die heutigen modernen Möglichkeiten nicht zur Verfügung standen? Hätte Schellenursli ein Handy gehabt, wären ja seine Eltern gar nicht so traurig gewesen in der Nacht, als er fortblieb. Und mit einem tragbaren CD-Player hätte er ja die anderen Buben akustisch bei weitem übertroffen, ohne abenteuerlichen Abstecher ins Maiensäss. Aber das wäre dann eben nicht mehr romantisch. Der Fortschritt zerstört auch die Nostalgie, an der wir gerne hängen.



Ein Tunnel eidgenössischer Skepsis und Hoffnungen


Ist dieser Tunnel also ein Segen oder ein Fluch? Gefährdet er die einmalige Kultur des Unterengadins, indem er noch mehr Zürcher übers Wochenende dorthin fahren lässt, oder fördert er eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung und gibt Anlass für einen fruchtbaren Kulturaustausch?


Wie jede Infrastruktur bietet dieser Tunnel sowohl Chancen als auch Risiken:

  • Risiken


Durch die zunehmende Verschmelzung von Kulturen droht manche Identität verwischt zu werden. Vor ca. zwei Jahren hat ein Mitglied des Bundesrates am Fernsehen von drei Sprachregionen der Schweiz gesprochen. (Um den armen Kerl nicht bloss zu stellen, nenne ich seinen Namen nicht ....) So weit sind wir schon, in der Eile und in der Beschränkung aufs Grobe wird das Rätoromanische einer Zehntelssekunde zuliebe geopfert. Doch welch ein Trost: Die ganze Schweiz hat es gemerkt und war solidarisch. Die Post ist dank den Protestbriefen in die schwarzen Zahlen gekommen.


Auch der Verkehr, den der Tunnel mit seinem Autoverlad dem Unterengadin und dem Prättigau bescheren wird, hat nicht nur Vorteile, denn die Autos und ihre Folgen (Luftschadstoffe, Lärm) plagen Einwohnerinnen und Einwohner. Sie könnten eine Touristikklientel vertreiben, die auf Ruhe und Qualität schaut, allzu viele Mittouristen meiden will, dafür auch etwas zu bezahlen bereit und finanziell nicht die uninteressanteste ist.


Ein Verkehrsproblem ergibt sich schon bei der Anfahrt zum Vereinatunnel, insbesondere bei Saas im Prättigau.


In der Tat ist es stossend, dass beim heute bereits herrschenden Verkehr durch das Prättigau und dem jetzt zusätzlich erwarteten Zuwachs ein einziges Dorf von einer Umfahrung vorerst ausgeschlossen bleibt. Dass der Kanton das zweite Grossprojekt neben der Umfahrung Klosters nicht auch ins Prättigau, sondern nach Flims vergeben hat, ist ein bündnerischer Entscheid, den ich begreifen kann und respektiere. Ich bin auch heute noch bereit, Hand zu bieten, damit Saas zu seiner Umfahrung kommt, und zwar möglichst rasch. Bereits zweimal konnte ich mich mit Regierungsrat Engler treffen. Wir wollen beide eine Lösung finden. Dazu braucht es die Bereitschaft anderer Kantone, die Situation Graubündens zu verstehen, jedoch auch den Willen anderer bündnerischer Regionen, zugunsten von Saas Verzögerungen in Kauf zu nehmen.

  • Chancen


Mobilität macht es möglich, Wohn- und Arbeitsort getrennt zu haben. Das ist für eine Region, die von Arbeitslosigkeit betroffen ist, von grösster Wichtigkeit. Tägliches oder wöchentliches Pendeln sind eine Möglichkeit, die Bindung zu Familie und Heimat aufrecht zu erhalten. Vor 100 Jahren war das nicht möglich und wer aus dem Kanton Graubünden auch nur in Zürich oder Basel Arbeit suchte, der ist eigentlich ausgewandert und musste das Bild seiner Herkunft in Heimatvereinen pflegen. Die heutige Mobilität kann eine Alternative zu solchen Lebensläufen sein. Wir haben es bei der Schliessung der Betriebswerkstätte der SBB in Chur erlebt, wie darüber diskutiert wurde, welcher wo gelegene Arbeitsort wem zumutbar sei oder nicht. Es gibt für die Antwort keine allgemein gültigen Regeln, sondern nur individuelle Antworten, die auf Familienverhältnisse und Alter der Betroffenen Rücksicht nehmen. Aber eines ist gewiss: Wer heute auf dem Arbeitsmarkt bleiben will, muss flexibel und mobil sein. Der Staat muss diese Mobilität mit einer guten Infrastruktur garantieren. 


Die Lösung ist jedenfalls nicht die, von den Bundesbetrieben zu verlangen, in den Regionen Arbeitsplätze aufrecht zu erhalten, wenn diese für die Produktion nicht benötigt werden. Das würde langfristig zu schmerzlichen Folgen für alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen führen, egal wo sie wohnen. Denn auch die Bundesbetriebe müssen ihre Konkurrenzfähigkeit erhalten. Umgekehrt müssen nämlich auch die Bundesbetriebe erleben, dass der Zuschlag für eine Leistung knallhart an denjenigen Mitbieter erfolgt, der günstiger ist. Wir haben das bei den Engadiner Postautos gesehen und ich bin froh, dass unser Departement diesen Streit schlichten konnte.


Der Umbau unserer Bundesbetriebe ist im Interesse unseres Landes notwendig. Aber er kennt nicht nur Gewinner. Wir haben uns um die möglichen Verlierer zu kümmern, und ich habe mit Interesse von der Standesinitiative des Regierungsrates des Kantons Graubünden erfahren, nach europäischem Vorbild einen Kohäsionsfonds für die Schweiz zu schaffen. Was der EU recht ist, müsste uns ja eigentlich nur billig sein. Aber wir wollen die Folgen von Umstrukturierungen nicht nur übertünchen, sondern soweit möglich vermeiden, dass es Verlierer gibt. Dazu sind Investitionen in Infrastrukturen dieses Landes nötig und wichtig.



Ein Tunnel gut eidgenössischen Kompromisses


Der Vereinatunnel ist ein Bahntunnel. Zwar ist damit auch der Autoverlad möglich, doch im Vordergrund steht die Bahn. Verbunden damit ist die eindeutige Haltung des Bundes, die ich hier bekräftigen will, dass sich der Bund nicht am Ausbau einer winterlichen Strassenverbindung beteiligen wird. Das ist der Kompromiss, der bei der Finanzierung dieses Werkes geschlossen wurde. Denn die Verbindung mit der Bahn bietet eben ganz besondere Chancen, die nicht verspielt werden sollen.


Der Vereinatunnel garantiert zum Beispiel, dass Schulklassen mit der Bahn das Unterengadin entdecken und lieben lernen können. Touristikfachleute wissen: Viele Erwachsene gehen sehr gerne an die Orte zurück, die sie von einer Schulreise her kennen. Die Erweiterung des Nationalparks bedeutet eine weitere Chance. Die Parkerweiterung ist ökologisch wichtig, sie sichert die Artenvielfalt und sie eröffnet auch neue wirtschaftliche Möglichkeiten. Die Gemeinde Lavin beheimatet seit heute nicht nur das wintersichere Tor ins Prättigau, sie spielt auch eine Vorreiterrolle bei der Erweiterung des Nationalparks. Zu diesem Engagement möchte ich Sie weiterhin ermutigen!


Nicht jeder Tourismus ist ein Gewinn für die betroffene Region. Tourismus à la Club méditerrané bringt jedenfalls nichts für das Verständnis einer anderen Kultur. Es ist die Aufgabe der betroffenen Regionen, den Vereinatunnel so zu nutzen, dass sich ein Tourismus zum Wohle der Region entwickeln kann, ein nachhaltiger Tourismus, der die Landschaften hüben und drüben schont, damit dieser Tunnel nicht ein Fluch wird sondern ein Segen. Infrastrukturen sind weder gut noch schlecht. Es kommt drauf an, wie man sie einsetzt. Der Sinn dieses Tunnels und v.a. seines Betriebes kann also nicht darin bestehen, vorwiegend den Autoverlad mit riesigen Vergünstigungen zu fördern. Im Vordergrund steht der Personenverkehr und zwar im wohlverstandenen Interesse der Regionen. Dieser Tunnel kann daher für das Prättigau und für das Unterengadin ein Segen sein.



Ein Tunnel typisch eidgenössischer Politik


Eidgenössische Politik sei langsam und man könne kaum etwas bewegen, höre ich immer wieder. Ich erinnere mich an meine erste Bundesratswahl als neu gewählter Nationalrat vor 20 Jahren. Es war diejenige von Leon Schlumpf, meinem Vorvorgänger. Er war die Lokomotive dieses Tunnels. Er hat ihn im Bundesrat und Parlament vertreten und verteidigt. Er hat etwas bewegt. Der heutige Tag ist auch sein Tag. Ich wünsche ihm, ich wünsche Ihnen, dass alle seine Wünsche, die er in dieses Werk setzte, in Erfüllung gehen. Denn Leon Schlumpf wusste damals genau, was wir heute alle auch wissen:


Dies ist ein durch und durch eidgenössischer Tunnel.