Navigation ausblenden

Politik ist Verführung. Interview in der Weltwoche

Moritz Leuenberger, feinsinniger SP-Bundesrat von 1995 bis 2010, erklärt, wie sich sein Bild der Schweiz während seiner Jahre in der Landesregierung verändert hat und begründet sein Misstrauen gegenüber der direkten Demokratie. Von Roger Köppel und Hans Schürmann (Bild)

Interview mit Moritz Leuenberger


 

Bevor wir ins Thema einsteigen: Ihr Vater war der protestantische Theologieprofessor Robert Leuenberger. Wie hat er Sie geprägt?

Ich wuchs in einem aufklärerischen Haushalt mit strengen Moralregeln auf.

Wie hat der theologisch tätige Vater den späteren Politiker Moritz Leuenberger beeinflusst?

Das Theologische an sich war weniger entscheidend. In erster Linie wirkte mein Vater auf mich sehr scharfsinnig. Schon als Kind nahm er mich in seine Vorträge und Predigten. Es kam mir alles immer sehr logisch vor, bis dann jeweils 5 Minuten vor Schluss der Glauben ins Spiel kam. Dann fand ich, es stimme etwas nicht mehr.

Die entscheidende Botschaft der frühen reformierten Theologen lautete: Der Mensch darf Gott nicht für irdische Zwecke missbrauchen. Erkennen Sie sich in solchen Botschaften wider?

Ja, mein Vater setzte sich für eine Trennung von Kirche ein und Staat und betrachtete religiöse Parteien als einen Widerspruch in sich selber. Atheismus war für ihn Teil der Theologie. Diese lernte ich als Auslegeordnung unterschiedlicher Denkrichtungen kennen, die man ganz rational diskutierte. Es ging nie um ein starres Dogma. Mein Vater hatte Mühe mit emotionalen theologischen Auseinandersetzungen zum Beispiel zwischen „Liberalen“ und „Positiven“ innerhalb der Protestanten in Basel. Er suchte immer die Versöhnung.

Das haben Sie für Ihre spätere politische Tätigkeit mitgenommen?

Fast noch wichtiger war, dass mein Vater jeden Abend eine Geschichte erzählte.  Das waren nicht nur Geschichten aus der Bibel, sondern ach Märchen oder die Nibelungensage, immer sehr lustig und unterhaltend erzählt. Das hat uns Kinder sehr geprägt. Es gab kein Radio und schon gar kein Fernsehen, Zeitungen schon.

Warum sind Sie auf der linken Seite in die Politik eingestiegen?

Ich studierte Recht an der Uni Zürich. In der Fakultät herrschte eine liberale Grundhaltung. Zusammen mit anderen begriff ich freie Entfaltung nicht nur als Wirtschaftsfreiheit. Unser Liberalismus war umfassender. Die Freiheit des Individuums  sahen wir eher durch die Privatwirtschaft gefährdet als durch den Staat. Ebenfalls empfand ich die damalige Gesellschaftsordnung als nicht liberal. Uneheliche Kinder, Homosexuelle, Leute mit Brüchen in der Biographie wurden ausgegrenzt. Das ist heute, auch dank den Leistungen  meiner Generation, zum Glück anders. Es war kein klassenkämpferischer Neid, der uns zur SP brachte.

«Achtung, Ironie!»: alt Bundesrat Leuenberger, Ende März in Zürich.

«Achtung, Ironie!»: alt Bundesrat Leuenberger, Ende März in Zürich.

 

Gab es eine auslösende Anekdote, die Sie in die Politik brachte?

Ich misstraue diesen zugespitzten Erweckungserlebnissen. Es sind ja immer lange Prozesse, die zu einem Schritt führen und wir wollen doch auch ehrlich sein: Bei allen Politikern spielt ein Stück weit Narzissmus, ein Drang zur Selbstdarstellung mit. Man gefällt sich in der Führerrolle, in der Rolle des Redners. Nur gerade eine selbstlose Mission für die Allgemeinheit erfüllen – ach, das ist Kitsch. 

Das Christliche hat Ihre Parteiwahl nicht beeinflusst?

Mein Gerechtigkeitsempfinden kommt aus einem  christlich geprägten Grundwasser. Auf einer ganz allgemeinen Ebene – Barmherzigkeit, alle müssen eine Chance haben – spielte das Christliche eine Rolle. Aber ich ging nicht mit Heilslehren bewaffnet in die Politik.

Sie gelten als Ironiker. Was nehmen Sie ernst?

In meinem Elternhaus wurde die Ironie gepflegt – zu sehr. Ich habe die Ironie später selber übertrieben. Die Leute konnten mir nicht mehr folgen. Ich habe hier schwere Fehler begangen. Ironie kann in Arroganz umschlagen, wenn sie der Adressat nicht mehr als solche wahrnimmt.

Und der Ironiker hält sich alle Fluchtwege offen, will er sich auf nichts behaften lässt.  Ironie ist die Feigheit des Intellektuellen.

Richtig. Aber sehen Sie: Ich kam in dieses Amt als Bundesrat und habe meine eigene Rolle trotzdem immer auch von aussen reflektiert und konnte mich darüber auch lustig machen. Mit dieser ironischen Distanz nahm ich mich selber nicht so wichtig, aber man nahm mir das auch übel. Zeitweise habe ich mich allerdings völlig mit der Aufgabe identifiziert. Bei den Katastrophen im Jahr 2001 zum Beispiel gab es keine Distanz zum Amt mehr. Das wurde auch geschätzt.

Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis aus den Bundesratsjahren?

Das war ein fünfzehnjähriger Prozess. Ich wuchs in meine Rolle hinein. Zum Beispiel: Ich redete an Jodler- oder Schwingfesten. Das war zunächst überhaupt nicht meine Welt, ich hätte mich früher wohl eher darüber lustig gemacht. Als ich dann aber dort stand und sah, wie die Leute an mich, an meine Rolle als Bundesrat glaubten, dann war es nichts als gerecht, ihnen auch mit Zuneigung gegenüberzutreten. Ohne jede Ironie.

Hat Sie ihre Bundesratszeit patriotischer oder schweizkritischer gemacht?

Ich habe eine neue Schweiz kennengelernt, insbesondere eine ländliche Schweiz, die an die Institutionen und an die direkte Demokratie glaubt. Da öffnete sich mir eine neue Schweiz, die ich bald romantisch verklärte. Jetzt, da ich nicht mehr Bundesrat bin, sehe ich wieder vieles kritischer.

Ihr Name bleibt mit der Aufarbeitung der Fichenaffäre verbunden, jener flächendeckenden Bespitzelung vieler Schweizer durch den Staat im Kalten Krieg. Wie sehen Sie das heute?

Die Aufarbeitung dieser Affäre fiel in die Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer. Das war kein Zufall. Der Kalte Krieg ging zu Ende. Die alten Feindbilder und Ängste lösten sich auf. Das war überhaupt der Grund, warum wir die Sache aufdecken konnten. Schockierend für mich war damals, dass sich in der Schweiz ein privates politisches Denunziantentum ausbreiten konnte. Professoren haben ihre Studenten verdächtigt und denunziert, Eltern ihre eigenen Kinder, weil sie Sympathien zu SP hatten. Wer kritisch dachte, stand unter Verdacht, ein Landesverräter, ein Terrorist und/oder ein Agent Moskaus zu sein.

«Ich sah mich als Ausgleicher»: 1990.

 «Ich sah mich als Ausgleicher»: 1990.

 

Sie haben kürzlich in einem Interview gesagt, Sie würden der politischen Empörung misstrauen. Verdanken Sie Ihren eigenen politischen Aufstieg aber nicht genau jener aus heutiger Sicht vielleicht auch übertriebenen und von links geschürten Empörung über die Fichen?

Im Gegenteil, ich wurde später eher deshalb in den Bundesrat gewählt, weil ich die Empörung gerade nicht anheizte und in der PUK Einstimmigkeit ohne jede Enthaltung schuf. Ich sah mich als Ausgleicher, nicht als Polarisierer. Mich in den Chor der Empörung zu mischen war mir immer ein Gräuel.

Kommen wir in die Gegenwart: In Vorträgen und Zeitungsessays, zuletzt in der NZZ, fielen Sie durch kritische Anmerkungen zur direkten Demokratie auf. Was ist der Grund?

Zunächst: Ich bin ein grosser Bewunderer der direkten Demokratie, mehr noch: Ich habe in dieser direkten Demokratie gearbeitet und sie auch lieben gelernt. Ich bin nicht gegen die direkte Demokratie, sondern ihr uneingeschränkter Anhänger. Nur: Auch in unserem System gibt es Schwachstellen. Das will ich auch thematisieren.

Wo liegt das grösste Problem?

Die Einstellung zur Demokratie verändert sich. Statt den verantwortungsbewussten Citoyen, der seine Pflichten und Rechte wahrnimmt, höre ich das Schimpfen über eine „classe politique“, die mache, was sie wolle, und gegen die man protestieren müsse.

Aber ist es nicht so, dass die Elite in Bern tatsächlich abhebt?

Unsinn. Dieses Zerrbild wird ganz systematisch bewirtschaftet. Ich empöre mich über den Ausdruck „classe politique“. Die gibt es in der direkten Demokratie nicht.  Man schürt vielmehr eine Staatsverdrossenheit, man will den Leuten einreden, sie würden von Verrätern regiert. Ich halte das für unredlich und für gefährlich.

Sie sprechen auch von einem Missbrauch der direkten Demokratie, es gebe zu viel Initiativen. Steckt hinter der Häufung nicht ein legitimes Unbehagen, das man ernst nehmen muss? Die Leute sind ja nicht dumm, sie sind nicht leicht verführbar.

Sind Sie sicher? Das stimmt nur bedingt. Durch Wahlpropaganda, durch Geld kann man das Abstimmungsverhalten der Leute beeinflussen. Sonst würde man die Unsummen nicht ausgeben. Hier müsste man endlich Transparenz schaffen.

«Umfassenderer Liberalismus»: mit Gattin Gret Loewensberg, Eltern Ruth und Rober

«Umfassenderer Liberalismus»: mit Gattin Gret Loewensberg, Eltern Ruth und Robert Leuenberger.

 

Ist der Mensch manipulierbar?

Natürlich. Politik ist Verführung. Politische Entscheide werden nicht einfach rational gefällt. Das ist vielleicht ein Teil, der andere Teil ist die Emotion, ist das Herz. Das ist sehr beeinflussbar, im übrigen ist auch der Verstand manipulierbar. Politik ist Beeinflussung. Das macht nicht nur die SVP, das habe auch ich gemacht.

Haben die Mächtigen nicht immer vor dem angeblich unmündigen Volk gewarnt? Sie waren als junger 68er selber Zielscheibe dieses Dünkels.  

Ich bin nie bei den Radikalen mitmarschiert. Ich trat sehr früh der SP bei. Das war für die radikalen 68er sehr reaktionär. Als Dieter Meier 1968 prophezeite, Leuenberger werde einmal Bundesrat, war das kein Kompliment, sondern eine Beschimpfung. Ich war ein Verräter an der Revolution.

Warum marschierten Sie nicht bei den Heissspornen mit?

Ich war nie ideologisch verblendet. Wenn ich heute unser damals neu entworfenes Parteiprogramm der SP lese, wonach jeder Mensch sich frei nach seinen Neigungen und Fähigkeiten entfalten dürfe, empfinde ich das als sehr liberal.

Weshalb gingen Sie nicht in die FDP?

Im Basler Studentenparlament war ich als Schüler bei den Freisinnigen, bei den Radikalen. Aber später wechselte ich zur SP. Wir dachten, die SP berge das grössere Potential für umfassende Chancengleichheit.

Wo beginnt für Sie Populismus?

Wenn der Populist seinen Anhängern nur noch nach dem Munde spricht, ihnen einfache Lösungen für schwierige Probleme verspricht und es in Wirklichkeit besser weiss.

Wie definieren Sie Moral?

Das sind gesellschaftliche Regeln über Gut und Böse, unabhängig davon, ob sie im Gesetz stehen.  Die wichtigsten sind kodifiziert, die meisten aber sind es nicht. Sie beantworten die Frage: Das macht man, das macht man nicht. Die moralische Diskussion an sich wichtig, sie gehört zur Politik, allerdings gibt es eben nicht nur eine Moral. Ich unterscheide davon das empörte Moralisieren. Da werden spontane Regeln für Exponierte geschaffen. Man wirft einer Politikerin vor, sie habe vor dreissig Jahren in ihrer Dissertation nicht korrekt zitiert.

Was ist das Böse in der Politik?

Ich misstraue Leuten, die mit Emphase vom Bösen reden. Tony Blair hat das getan, um den Irakkrieg zu legitimieren. Dieses Entweder – Oder fröstelt mich. Mich interessieren die Grautöne.

Das Böse ist das Überschiessende Gute.

Wer die Welt in Gut und Böse aufteilt, macht es sich einfach. Hier sehen Sie meinen Vorbehalt gegenüber dem Populismus: Der Differenzierte muss sich länger erklären. Der Populist führt verbal die scharfe, trennende Klinge. Schwarz und weiss - anstatt Schattierungen. Er redet, um sich einzuschmeicheln. Die verführte Gruppe will, auch um ihren Zusammenhalt zu stärken, eine klare Aufteilung zwischen gut und böse. Der Nichtpopulist, der den Leuten sagen will, dass im Guten immer auch Böses steckt, steht da immer schon auf etwas verlorenem Posten.

Sie misstrauen den klaren Schlachtordnungen. Allerdings gibt es Situationen, in denen man Farbe bekennen muss: Kann es Neutralität gegenüber einem Hitler geben oder gegenüber einem Islamischen Staat?

Sicher keine Gesinnungsneutralität. Wie sich ein Staat verhält und welche Mittel er zur Bekämpfung einsetzt, ist dann etwas Anderes. Wenn Sie meine Arbeit anschauen, zieht sich allerdings der Versuch, die andere Seite zu verstehen, durch. Ganz am Anfang meiner Bundesratskarriere hielt ich eine Neujahrspredigt im Berner Münster und stellte die Frage: Was heisst eigentlich der biblische Satz „Liebet eure Feinde“? Ich redete ganz gezielt mit Blick auf die gegnerische SVP, und sagte, egal, was wir von der Partei halten, mindestens ein Körnchen Wahrheit ist auch dort dabei. Man muss überall, auch dort, wo es auf Anhieb abwegig scheint, einen Kern von Wahrheit suchen. Wenn wir dies nicht mehr können oder wollen, enden wir im Schützengraben. Das ist nicht Altersmilde, das war immer ein Leitmotiv für mich.

Heute ärgern sich die Leute zum Beispiel darüber, dass kriminelle Ausländer nicht mehr ausgeschafft und Volksinitiativen nicht einigermassen wortgetreu umgesetzt werden. Das ist doch nachvollziehbar und in Ordnung.

Initiativen können eben  nicht immer wortgetreu umgesetzt werden. Ich konnte die Alpeninitiative auch nicht vollständig umsetzen. Ich beobachte eine Veränderung des Inhalts von Volksinitiativen. Da werden eigentliche Glaubensbekenntnisse formuliert. Nehmen wir die Minarettinitiative: Die Minarette an sich sind kein Problem.

Für eine Mehrheit offenbar schon. Man sieht in ihnen Symbole einer integrationsunwilligen religiös mitunter fanatischen Kultur.

Da muss ich Ihnen Recht geben: Es geht um Symbole, um ein Glaubensbekenntnis. Darüber kann man diskutieren, aber es ist für Volksinitiativen und eine Abstimmung nicht geeignet. Die neue Verfassungsnorm löst kein Problem. Deswegen war die Vorlage unehrlich.

Hätte man die Minarettinitiative verbieten sollen?

Nein! Nicht alles, womit ich nicht einverstanden bin, muss verboten werden. Ich bin auch gegen die Erhöhung der Unterschriftenzahl. Aber man muss die Problematik ansprechen.

Was also sollte man tun, um die direkte Demokratie aus Ihrer Sicht zu verbessern?

Man muss darüber sprechen. Ich finde zum Beispiel nicht, dass eine Regierungspartei mit Volksinitiativen politisieren sollte. Einst sah sich die SP, ähnlich wie heute die SVP, in der Minderheit, obwohl sie mit zwei Bundesräten in der Regierung war. Daraus leitete sie ihre moralische Befugnis ab, mit Volksinitiativen politische Propaganda zu betreiben. Dafür wurden die Initiativen aber nicht geschaffen.

Sondern?

Für echte Minderheiten, die nicht im Parlament oder gar in der Regierung vertreten sind. Heute werden Initiativen systematisch als Propagandainstrument missbraucht.

Sie kritisieren die neue SVP-Volksinitiative „Schweizer Recht statt fremde Richter“. Sie haben früher selber gegen staatliche Gerichte gekämpft, gegen Richter, die im Namen des Rechts aus Ihrer Sicht Politik machten. Besteht diese Gefahr heute nicht mehr?

Wir sind der europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten, weil wir die Menschenrechte bei uns selber voll verankern wollten. Wir misstrauten unseren Gerichten, ob sie dies genügend garantieren. Zweitens wollten wir andere Länder mit in die Pflicht nehmen. Auch Ungarn und Rumänien sollen die Menschenrechte einhalten. Wir wollen ja keine politischen Flüchtlinge von dort aufnehmen müssen. Nun hat sich die Rechtsprechung entwickelt. Mag sein, dass es auch einige Urteile gibt, bei denen wir uns etwas an den Kopf greifen. Aber: Dass eine Verjährung bei Asbestfällen menschenrechtswidrig ist, musste uns zuerst Strassburg sagen. Zu Recht. Dass wir aber wegen einem oder zwei fragwürdigen Entscheiden aus der Menschenrechtskonvention austreten sollen, wäre eine groteske Masslosigkeit. Es wäre auch undemokratisch.

Warum undemokratisch?

Weil ich inhaltliche Erwartungen an eine Demokratie habe. Eine Demokratie ist nicht bloss ein Abstimmungsverfahren. Zur Demokratie gehört die Berücksichtigung von Minderheiten, von Individualrechten. Zur Demokratie gehört die Gewaltenteilung, gehört der Rechtsstaat, gehört die völkerrechtliche Einbettung.

„Die Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie selber nicht garantieren kann. Das ist das Wagnis, das sie um ihrer Freiheit willen eingegangen ist.“ So lautet ein berühmtes Zitat. Ihnen schwebt eine andere Form von Demokratie vor. Eine Art inhaltlich vorgekaute Demokratie. Ist das noch demokratisch?  

Die inhaltlichen Grundalgen einer Demokratie, wie Vertrauen oder Solidarität können nicht gesetzlich geschaffen werden. Da bin ich einverstanden. Das wird nur durch Diskussionen über Moral und kulturelle oder auch religiöse Traditionen geschaffen.

Ich habe den Eindruck, Sie trauen den Stimmbürgern, die anders abstimmen, als Ihnen lieb ist, nicht wirklich.

Doch. Ich bin ja sehr oft in der Minderheit. Ich habe das grösste Vertrauen in unser System, aber ich erlaube mir, ein paar Fragezeichen zu setzen.  

Wer soll am Ende in der Schweiz die Gesetze bestimmen? Die Bürgerinnen? Oder auswärtige Gerichtsinstanzen, die demokratisch bei uns nicht legitimiert sind?

Wir schaffen zwar unsere Gesetze, aber wir sind nicht absolut souverän und autonom. Wir sind global vernetzt und immer auch abhängig von anderen. Statt das Unwort „autonomer Nachvollzug“ zu pflegen, würden wir besser einen demokratischen Geist walten lassen.

Nicht die Mehrheit?

So absolut gilt das nicht. Die Mehrheit gibt die Richtung an. Aber die Entscheide der Mehrheit müssen immer unter Berücksichtigung der jeweils unterlegenen Minderheit umgesetzt werden. Dazu haben wir uns selber verpflichtet. Das gehört zu einer guten Demokratie.

Ein berühmter Schweizer Staatsrechtler nannte mit Blick auf die Schweiz die Demokratie die Hüterin der Menschenrechte. Sie brachten kürzlich die Idee eines Verfassungsgerichts als Hüter der Menschenrechte ins Spiel.

Die Wahrung der Verfassung obliegt dem Bundesrat und dem Parlament. Sie müssen völkerrechtswidrige Initiativen, die zwingendes Völkerrecht verletzen, verbieten. Wenn das funktioniert, braucht es kein Verfassungsgericht. Aber die Umsetzung von angenommenen Initiativen muss mit anderen verfassungsrechtlichen Bestimmungen austariert werden. Das gehört auch zur inhaltlichen Demokratie, wie ich sie mir vorstelle.

Aber das Schweizer Volk hat doch in der Vergangenheit immer wieder eine erstaunliche demokratische Reife bewiesen. Muss man an der direkten Demokratie herumdoktern? 

Ein konkretes Beispiel: „Durchsetzungsinitiativen“ und dergleichen sind für mich Ausdruck eines neuen antidemokratischen Egoismus, einer neuen kompromisslosen Sturheit der Mehrheit. Die Schweiz ist keine Mehrheitsdiktatur. Die Interessen der Minderheit sind zu berücksichtigen, denn die Demokratie ist für alle da, nicht nur für die Mehrheit. „Durchsetzungsinitiativen“ führen zu einer solchen Mehrheitsdiktatur. Es geht um das von uns allen hoch geschätzte Prinzip der Verhältnismässigkeit. Wer dies als Demokratieverrat verteufelt, sägt an den Staatssäulen, die er zu pflegen behauptet.

Der Schweizer Historiker Thomas Maissen sagte in einem Interview, die direkte Demokratie gehöre nicht zum Wesen der Schweiz, weil sie erst relativ spät in unserer Geschichte eingeführt wurde. Was macht für Sie die Schweiz aus?

Die direkte Demokratie gehört dazu. Auch wenn die direkte Demokratie tatsächlich erst spät kam und wir die Landsgemeinden, an denen früher nur Verordnungen verlesen wurden, nicht idealisieren sollten. Die direkte Demokratie hat uns enorme Vorteile gebracht. Sie ist auch eine Art Bildungsprogramm, weil sie die Leute intensiv mit wichtigen Fragen auseinandersetzen müssen.

Was gehört sonst noch zur Schweiz?

Die vielen Minderheiten, sprachliche, kulturelle, und dass die sich alle verwirklichen können, das Konsensdenken, die Kollegialität statt Parteikoalitionen. Das ist aber alles im Fluss.

Inwiefern ist die Schweiz im Fluss?

Ich habe zum Jubiläum des Wiener Kongresses darüber gesprochen: Früher waren die Landesgrenzen wichtig. Heute breitet sich über die Landesgrenzen hinaus eine Art globale Kommunikationsgesellschaft aus, die moralische Standards definiert, an denen man nicht mehr vorbei kommt. Hier dringen Ideen und Gedanken in die Schweiz, die unsere traditionelle Vorstellung  der Souveränität und Neutralität herausfordern und aufweichen. Ein globales Moral- und Politikverständnis schlägt durch. Landesgrenzen und Kantonsgrenzen waren einst ein Identifikationsmerkmal. Sie sind es nicht mehr.

Ist das gut oder schlecht?

Es ist einfach so. Wir fangen an, unsere Identität immer stärker in Übereinstimmung mit internationalen Vorstellungen und Regeln zu definieren. Unsere Autonomie wird relativiert.

Was ist für Sie die wichtigste Botschaft der Schweizer Geschichte?

Die Gründung des modernen Bundesstaats 1848. Ich misstraue allerdings den Jubiläen. Die werden für die eigene Meinung benutzt und missbraucht. Dagegen bin ich ja selber auch nicht geimpft.

Wird die Schweiz überleben oder sich auflösen wie ein Stück Zucker im Tee?

Sie wird überleben, wenn sie die wechselseitigen Abhängigkeiten richtig einschätzt. Indem sie sich einfach abschottet und sich einbildet, sie sei gänzlich eigenständig. Das Land ist in Bewegung. Und die Bewegung soll nicht aus Nostalgie verteufelt werden. Wir sind im Fluss.

Sie auch?

In den Grundüberzeugungen habe ich mich nicht verändert, aber bei deren Umsetzung folgte ich nie sturen Dogmen. Ich fand als Bundesrat, die beste Umsetzung des Service Public sei durch Liberalisierungen zu erzielen. Und Solidarität wird durch freiwilligen Einsatz geschaffen, nicht durch den Staat verordnet.

Sie waren ein Verfechter einer modernen, reformorientierten Sozialdemokratie, wie sie in den neunziger Jahren weltweit sehr erfolgreich war. Heute scheint die SP das Rad zurückzudrehen, neue Ideologen wie Cédric Wermuth drängen nach vorne. Kommt hier ein neuer linker Dogmatismus?

Ich bin ehrlich gesagt nicht in der Lage, hier eine vernünftige Diagnose zu stellen. Und selbst wenn ich es wüsste, würde ich es meiner Partei nicht via Weltwoche mitteilen. Aber lassen Sie mich es allgemeiner so sagen: Der Demokratie ist Egoismus inhärent. Das Glücksstreben findet sich in der Verfassungspräambel. Daraus leiten Menschen oder Gruppen Ansprüche ab, die oft auf Kosten späterer Generationen gehen. Das ist im Ökologischen, aber auch bei der Sozialversicherung so. Wie bringen Sie in einer Demokratie nachhaltige Entscheide zustande? Demokratie tendiert zur Besitzstandswahrung. Hier sehe ich ein grundsätzliches Problem, das nicht nur die SP betrifft.

Sie sind für eine aufgeklärte Diktatur, die im langfristigen Interesse einfach durchgreift?

Wenn ich der Diktator wäre...Achtung Ironie! Immer noch nicht geheilt... Nein, ich bin für eine aufgeklärte Demokratie. Ich bin überzeugt: Sie ist in der Lage, solche Probleme zu lösen.

Wir haben beim Theologischen begonnen, wir enden auch wieder dort: Inwiefern hat Ihre persönliche Vorstellung von Gott Ihre Art des Politisierens beeinflusst?

Sobald der liebe Gott in die Politik kommt, wird es brandgefährlich.

Gott kann auch eine Quelle der Demut und Bescheidenheit sein.

Wenn die eine Partei der anderen ihre Gottesbilder predigt, enden wir beim Gottesstaat. So sollten wir dieses Gespräch nicht enden lassen.

Glauben Sie etwas, oder glauben Sie nichts?

Die Frage ist mir zu persönlich. Darüber sollten wir ein gesondertes Interview führen.

Was ist das beeindruckendste Buch, das Sie in letzter Zeit gelesen haben?

In diesem Zusammenhang „The Life of Pi“, deutsch „Schiffbruch mit Tiger“. Der Protagonist wächst mit allen Religionen auf, inklusive der Aufklärung. Dann erlebt er Menschen als schreckliche Kannibalen. Er verdrängt die Wahrheit und legt sich einer Art Tierfabel zurecht. „Meine Geschichte ist besser als die Wahrheit“ rechtfertigt er sich. Er flüchtet in einen Glauben. Das ist eine religiöse, aber auch menschliche Aussage.

Inwiefern?

Es wäre schön, wenn es so wäre, was er sich zurechtlegte. Deshalb bindet er sich zurück und glaubt an seine Geschichte. So wird ihm das Leben und die Welt erträglich.

Wie ist aktuell Ihre Stimmungslage als ehemaliger Bundesrat?

Gleich nach dem Rücktritt fiel ich in eine Baisse und jetzt bin ich dabei, Neues zu entwickeln und habe Freude daran.

Was ist Ihre grösste Stärke?

Vielleicht das Erklären. Ich hatte in der Schule selber Mühe zu begreifen und musste mir selber vieles umständlich erklären und konnte dann so auch anderen helfen, die Mühe hatten.

Ich habe mich immer als Vermittler und Übersetzer verstanden. Schon als Anwalt an der Zürcher Langstrasse habe ich Leute, die sich nicht ausdrücken konnten, gegenüber Richtern vertreten, die nur ihre Juristensprache sprachen. Später vermittelte ich zwischen Fachleuten und den Stimmbürgern.

Und wie lautet Ihre wichtigste Überzeugung?

Ich glaube an das Gespräch. Deswegen wagten wir ja dieses Interview.