Interview zu Max Frisch
Fehlt Max Frisch der Schweiz, Moritz Leuenberger?
Ein Gespräch mit Moritz Leuenberger über Max Frisch, neue Identitäten, gehaltene Reden und nicht geführte Tagebücher
Gesprächsführung: Gwendolyne Melchinger und Andreas Karlaganis, Dramaturgen
Herr Leuenberger, wir treffen Sie aus Anlass der Premiere von „Mein Name sei Gantenbein“ in der ehrwürdigen Kronenhalle, bekannt als Stammlokal Max Frischs. Wie haben Sie Max Frisch damals erlebt?
Als Schüler, vorwiegend im Deutschunterricht. Aber Frisch war mehr als Pflichtstoff. Wir lasen und diskutierten ihn auch außerhalb der Schule. Wir waren aber nicht Literaturstudenten oder angehende Theaterschaffende und so waren das natürlich nicht unbedingt tiefschürfende Analysen, sondern sehr subjektive Gespräche von Jugendlichen. Dabei standen Vergleiche zwischen ihm und Dürrenmatt im Vordergrund. Das waren immer auch Glaubensbekenntnisse, etwa vergleichbar mit den damaligen Fraktionen für die Beatles oder die Stones.
Kam es einmal zu einer persönlichen Begegnung?
Nein. Es gab ja auch keine familiären oder beruflichen Berührungen. Nach dem Fichenskandal interessierte sich Frisch zwar für meine Arbeit als PUK Präsident und trat sogar der SP bei. Das war wenige Jahre vor seinem Tod.
Erinnern Sie sich an Aufführungen im Schauspielhaus? Nicht immer wurden seine Stücke geschätzt.
Ich bin in Basel aufgewachsen, war also nicht im Schauspielhaus. An Andorra und an die Diskussionen darüber kann ich mich erinnern. Mit dem Stück geschah etwas, was mir auch später immer wieder begegnen sollte: Andorra wurde nicht so verstanden, wie es Frisch beabsichtigte. Er nahm Änderungen vor, die er dann aber auch wieder korrigierte. Wir diskutierten schon damals darüber: Wenn ein Schriftsteller jedes Risiko einer falschen Aufnahme durch das Publikum vermeiden will, muss er sehr konkret und direkt werden. Damit wird aber die künstlerische Kommunikation zu spröder Belehrung und dem Zuschauer wird das intuitive Weiterdenken und -fühlen genommen.
War Frisch zu Lebzeiten eine Symbolfigur für einen jungen Politiker?
Natürlich nicht für alle. Viele taten ihn als „Salonsozi“ ab. Das waren die Fronten des kalten Krieges. Aber auch für aufgeklärte Jugendliche war Frisch weniger eine Symbolfigur als eher ein virtueller Diskussionspartner. Unsere Überzeugung sahen wir immer wieder in seinen Gedanken gespiegelt. Er wollte sich von den damals herrschenden ideologischen Blöcken lösen und glaubte an einen dritten Weg, an einen humanen Sozialismus. Viele aus meiner Generation gelangten ebenso aus einer radikal liberalen Haltung zum Programm der Chancengleichheit und so zur Sozialdemokratie, nicht etwa wegen kollektivistischer Ideologien. Als ich 26-jährig Präsident der SP der Stadt Zürich wurde, begann unser neues Parteiprogramm mit: „Unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der sich jeder nach seinen Neigungen und Fähigkeiten frei entfalten kann.“ Das ist ein urliberales Programm.
Wie die meisten Schweizer, haben wahrscheinlich auch Sie seine Romane vor Ewigkeiten einmal gelesen. Woran erinnern Sie sich noch? Was davon ist nach dieser Zeit als Essenz übrig geblieben?
„Was wäre wenn?“ Was wäre ich geworden, hätte ich einen anderen Beruf gewählt? Hätte die Geschichte einen anderen Verlauf nehmen können, als sie es tatsächlich nahm?
Stellen Sie sich solche Fragen in Bezug auf Ihre Zeit als Bundesrat heute auch?
Sicher. In Interviews sind mir auch ständig solche Fragen gestellt worden: „Was wäre heute, wenn wir dem EWR zugestimmt hätten?“ Oder: „Hätten Sie anders entschieden, wenn Sie gewusst hätten, dass...“ Oft habe ich bei der Antwort explizit „Mein Name sei Gantenbein“ erwähnt: „Ich habe damals eben deswegen so entschieden, weil ich nur diese Informationen hatte oder mich in jenem Gemütszustand befand. Auch wenn ich nochmals die Gelegenheit hätte, zu entscheiden: Unter den absolut selben Umständen wie damals, würde ich auch wieder gleich entscheiden. Den heutigen Wissensstand gab es damals noch nicht.“
Das wird mitunter fatalistisch verkürzt, im Sinne: Das bedeutet also, wir entscheiden aufgrund von definierbaren Umständen, also haben wir gar keinen freien Willen und deswegen letztlich auch keinen Einfluss auf die Geschichte. Das ist natürlich falsch. Ein Verhalten, also auch eine politische Entscheidung, ist zwar immer hinterher erklärbar. Das heisst aber nicht, dass im Moment des Entscheides selber der freie Wille nicht bestanden hätte. Im Zeitpunkt des Entscheides könnten wir so oder anders entscheiden, aber diesen Zeitpunkt gibt es nur ein einziges Mal, er wiederholt sich nicht. Falsch ist zudem die Meinung, hinterher genau berechnen zu können, wie sich die Geschichte mit einem anderen Entscheid entwickelt hätte.
Kann man in der Politik nicht listiger sein, als im Beziehungsleben, welches Frisch beschreibt? Sie haben oft politischen Geschäften eine zweite Chance gegeben, indem Sie sie zurückgezogen und zu einem anderen Zeitpunkt wieder ins Spiel gebracht haben.
Das gehört zur Alltagstaktik in der Politik. Es ist die Frage nach dem Kairos, dem richtigen Zeitpunkt. Ich habe zum Beispiel das Programm „Via sicura“ zur Sicherheit auf den Strassen damals zurückgezogen, weil ich damit gescheitert wäre, und habe gewartet, bis der Bundesrat anders zusammengesetzt war. Mit der Frauenmehrheit bin ich dann problemlos durchgekommen.
„Jedermann erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“ Der Satz stammt aus „Mein Name sei Gantenbein “, ähnlich könnte er wahrscheinlich auch in anderen Romanen Frischs stehen. Dürfte man auch sagen: „Jeder Politiker erfindet sich früher oder später eine Geschichte“?
Wir können ja solche Geschichten immer wieder beobachten. Wir wissen von persönlich zurechtgezimmerten und wahrheitswidrigen Beschönigungen von vergangenen Lügen, die in Interviews und sogar Büchern behauptet und wohl selber auch geglaubt werden. Es gibt auch das Gegenteil: Politiker, die ihre eigene Geschichte rabenschwarz empfinden und eine Öffentlichkeit, die sie aber durchaus in hellem Lichte sieht.
Immerhin finde ich, in der Politik sei die Zurechtlegung der eigenen Geschichte etwas eingeschränkter als in anderen Bereichen, weil wir im öffentlichen Rampenlicht stehen, stets beobachtet sind und alles dokumentiert wird. Wahrheitswidrige Beschönigungen beispielsweise können mit Archivaufnahmen problemlos widerlegt werden. In anderen Berufen oder im Privatleben ist das nicht so.
Ihre Rücktrittsrede an das Parlament eröffneten Sie mit dem Satz: „Wir treten auf, wir spielen, wir treten ab.“ Womit wir erneut bei Max Frisch wären. Seine Existenz- und Überlebensform ist das Spiel.
Die Welt ist eine Bühne, das Leben ein Auftritt. Ein altgriechischer Topos. Das Spielen ist das Leben. In jener Rücktrittrede habe ich das Spielen mit dem öffentlichen Leben, also mit meiner Zeit als Bundesrat verglichen.
Die Frage nach sich selbst, was man ist und sein könnte, Frisch sieht darin ein existenzielles Problem. In seinen „Fragebogen“ katalogisierte er die Fragen, die er ans Leben hatte, richtiggehend - ohne Antworten zu geben, versteht sich. Wie steht es mit dem Fragen in der Politik aus, wo man ja Antworten gibt auf Fragen, die einem gestellt werden?
Da flammt jetzt mein Widerstand gegen Frisch auf: Mir war diese ausgiebige Identitätssuche stets ein Luxusproblem, fast eine Bauchnabelschau. Ich will mich gar nicht derart mit mir selber beschäftigen. Ich weiss, es tönt arrogant, aber den Fragebogen empfand ich immer wie ein psychologisches Unterhaltungsspiel. Entscheidende Fragen in der politischen Welt sind eben ganz andere. Da geht es um die Gestaltung eines Gemeinwesens, also um Fragen, die auch andere betreffen. Natürlich spielt da Narzissmus auch eine Rolle und ist auch eine Motivation zur Politik. Das habe ich immer betont. Aber im Zentrum steht doch die Gemeinschaft und die Welt. „Ich“ bin nicht die Welt. Auch Dürrenmatt hat Frisch mal vorgeworfen, seine Probleme zu denjenigen der Welt zu machen, während er, Dürrenmatt, die Welt zu seinem Problem mache.
Das trifft zumindest auf seine Romane zu. Hingegen weniger auf seine Theaterstücke.
Er hat sich immer wieder zu tagespolitischen Geschäften konkret geäussert, im Zürcher Manifest, im Palaver über die Armee. Im Grunde war er der engagiertere Citoyen als Dürrenmatt.
Zurück zu den Fragebogen: Wann fragt ein Bundesrat?
Für mich hat das Fragen eine zentrale Rolle gespielt und ich habe die Fragen und die Antworten organisiert, um den Horizont zu erweitern. Ich versuchte, mich mit anders Denkenden zu umgeben und mich vor jedem Entscheid zu fragen: Was würde ich der politischen Opposition sagen, wenn sie sich empört? Was könnte ich den Medien glaubwürdig antworten? Wie würde ich mich vor eine PUK verhalten?
Das war ein systematisch organisierter, ständiger Diskurs. Ich spielte mit den drei Dimensionen Wort – Antwort – Verantwortung. Die Rede und Gegenrede, die man pflegen muss, um so zur abstrakten Verantwortung gegenüber jedermann zu gelangen.
Ein zentrales Thema des Romans „Mein Name sei Gantenbein“ ist das Verhältnis von Mann und Frau. Der Roman stammt aus dem Jahr 1967. Im Verhältnis zwischen den Geschlechtern hat sich viel getan.
Es war eine andere Zeit und ich ging wie gesagt noch in die Schule. Man darf nicht vergessen, dass das Frauenstimmrecht in der Schweiz 1967 noch nicht existierte. Immerhin waren wir eine gemischte Klasse, was damals eine Ausnahme war. Die Mädchen beschäftigen sich eher mit Frisch und seinen Beziehungsproblemen, wir uns eher mit den abstrakteren Gedanken von Dürrenmatt.
Inwiefern spielt der Einfluss der Kunst für den Politiker eine Rolle?
Sei es Theater, sei es Film, zum Teil auch Oper, Bücher ohnehin: sie lassen uns ständig reflektieren und bringen uns zu neuen Gedanken für einen Entscheid oder eine Rede. Die Auseinandersetzung mit Kunst liess mich stets meine Arbeit reflektieren. Ich empfand das als Privileg, weil ich nie trennen musste zwischen beruflicher Aktivität und kultureller Rezeption. Man dankte mir oft, dass ich noch Zeit fände, ins Theater zu gehen. Das verstand ich nie, denn das gehörte doch zu meinem Beruf und prägte ihn auch.
Theater und Politik haben einiges gemeinsam?
Beides bringt bestimmte – mitunter unendlich komplexe - Gedanken zeitlich begrenzt und auf einer Bühne zum Ausdruck. Man gestaltet, man spitzt zu, so, dass die Gedanken aufgenommen und verstanden werden können. Politik ist immer auch Übersetzungsarbeit, wie Theater.
Ein Zitat aus den „Gesprächen im Alter“ von Max Frisch lautet: „Wie bleibst Du lebendig? Wie vermeidest Du Erstarrung, die Wiederholung?“ Frisch rebellierte gegen die Haltung, dass etwas so ist und nicht anders. Er findet sich damit nicht ab. Können Sie das nachvollziehen?
Das ist eine Lebenseinstellung. Wer sich politisch engagiert, will Einfluss auf das öffentliche Geschehen nehmen. Wir dürfen uns mit den Umständen nicht einfach abfinden. Diese letztere Haltung habe ich als Jugendlicher dafür manchmal Dürrenmatt etwas vorgeworfen: Er analysiert in kosmischen Dimensionen in gigantischen zeitlichen Vergleichen, er philibustert jeden Versuch, Gerechtigkeit zu organisieren, ad absurdum und suggeriert so: Versuche, unsere Gesellschaft zu ändern, sind zwecklos!
In den fünfzehn Jahren, in denen Sie Bundesrat waren, haben Sie das Departement nie gewechselt. Wie haben Sie „Erstarrung und Wiederholung“ vermieden?
Die Politik ist das Bohren dicker Bretter. Es waren sehr langfristige Projekte, die ich durchziehen wollte. Die Neue Eisenbahn-Alpentransversale ist ein gigantisches Projekt, das rechtzeitig und ohne Kostenüberschreitung durchgezogen werden
konnte, das andere war der Aufbau des UVEK als Nachhaltigkeitsdepartement. Es ist, so viel ich weiss, das einzige Ministerium der Welt, in welchem alle Infrastrukturen und die Umwelt zusammengeführt wurden. So konnten wir eine Strategie der Nachhaltigkeit aufbauen. Das brauchte seine Zeit. Es geht ja nicht nur um meine persönliche Veränderung. Diese habe ich zugegebenermassen etwas vernachlässigt und bin daher nicht so in der Welt herumgekommen wie Frisch.
Frischs Verhältnis zu seiner Heimat war disparat. Einerseits umtrieb ihn der Wunsch nach Ruhe und Sicherheit zuhause im bürgerlichen Alltag, andererseits die Träume von den Abenteuern draußen in der weiten Welt. Wie ergeht es Ihnen?
Viele haben das als elitär empfunden: Um die Welt jetten und dann zuhause noch Ratschläge erteilen. Heute kennen wir aber zum Beispiel Manager, welche die Schweizer Wirtschaft lenken und keine Ahnung von unserem Land haben und sich auch nicht darum kümmern. Da sind mir dann Schriftsteller, welche die Welt kennen und sich aus dieser Perspektive um unsere demokratischen Probleme sorgen, doch sehr viel lieber. Die Schweiz ist ja global vernetzt und gleichzeitig will sie ihre Identität wahren, die direkte Demokratie zum Beispiel. Da können wir uns weder nach Asien oder Amerika absetzen, noch uns in den Bergen eingraben. Es braucht beide Perspektiven.
Frisch sagte einmal, er hätte statt eine feste Identität anzunehmen, lieber das Experiment, die Unabgeschlossenheit gewählt. Er sage zu sich „ich“ doch meine er im gleichen Moment schon wieder, ein anderer zu sein, wie Ingeborg Gleichauf in ihrer Max Frisch Biographie schreibt. Haben Sie sich nach Ihrer Zeit als Bundesrat auch nach einer neuen Identität gesucht?
Schon der Wechsel vom Parlamentarier zum Bundesrat bedeutet eine neue Identität. Im Parlament ruft man aus, greift an, mahnt an hehre Grundsätze. In der Exekutive sollst du umsetzen. Dazu sind Kompromisse nötig und du trägst Verantwortung gegenüber allen. Du entdeckst Sichtweisen anderer Leute, die du zuvor nicht gekannt hast. Auch Bundespräsident zu sein, bedeutet wieder eine neue Identität. Ich musste zum Beispiel den Schmerz des ganzen Landes in Worte fassen beim Attentat in Zug und bei all den weiteren Katastrophen im 2001. Jetzt nach dem Rücktritt suche ich wieder eine neue Identität – unter reger Beteiligung der öffentlichen Meinung übrigens. Eine Arbeit als Verwaltungsrat wurde gar nicht goutiert, ein Auftritt als Statist im Opernhaus verhöhnte der Tagi, eine Führung durch das UNO Gebäude fand auch keine Gnade. Einzig mein kürzlicher Auftritt in der Tonhalle wurde akzeptiert. Wollen wir mal sehen, wie dieses Interview ankommt.
Max Frisch hat das Literarische Tagebuch geprägt. Haben Sie Tagebuch geschrieben?
Leider nicht. Ich wollte mich gar nicht so sehr mit mir selber beschäftigen. Heute bereue ich das, denn der Rückblick aus der heutigen Perspektive begünstigt dann eben die „eigene Geschichte, die man für sein Leben hält“.
Denken Sie, Frisch wäre ein guter Bundesrat gewesen?
Niemals. Das ist schon fast eine Gantenbeinische Frage: Was wäre wenn? Als Bundesrat hätte er eine total andere Vita aufweisen müssen. Frisch war ein Perfektionist. Das ist ein Widerspruch zu einem Exekutivamt, das von
Zugeständnissen geprägt ist. Er hat zwar als engagierter Citoyen immer wieder zu politische Fragen Stellung bezogen: „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.“ Es gab übrigens mal eine TV-Diskussion zwischen Frisch und Furgler. Da prallten zwei Welten aufeinander und die geschliffene Rhetorik von Furgler wurde von den Journalisten allgemein als überlegen bezeichnet. Das lag aber vor allem daran, dass Politjournalisten berichteten, die dem Gedanken der Arena oder Boxkämpfe huldigten, die also Sieg oder Niederlage erleben wollten und nicht einen Diskurs. Der in der Exekutive tätige Politiker setzt um, er muss Mehrheiten suchen. Er kann nur das Bessere, niemals das Gute anstreben und macht auch Kompromisse gegen seine eigene Überzeugung. Der aufgeklärte Gesinnungsethiker Max Frisch wusste, in welcher Situation sich der Politiker befindet, aber er mahnte trotzdem. Das war seine Rolle.
Max Frisch war bekannt für seine Reden, mit vielen provozierte er, beispielsweise mit der Schillerpreisrede „Die Schweiz als Heimat?“, die er 1974 im Schauspielshaus hielt. Auch Ihre Reden wurden mehrfach ausgezeichnet und veröffentlicht. Wie hat sich dieses Medium verändert?
Die Rede ist ein Kommunikationsmittel, das sich mit der Zeit unglaublich verändert hat. Während Cicero noch vier Stunden redete, ist heute eine halbe Stunde schon lang. Die Sprache ist viel direkter geworden. Vor einiger Zeit habe ich wieder eine Rede von Kennedy gelesen. Ich war verblüfft, wie kompliziert sie war. Verschraubt mit Relativsätzen. Das wäre heute nicht mehr denkbar.
Verkümmert die Rede?
Nein, sie verändert sich. Die Rede soll nach ihrem Erfolg beurteilt werden und nicht in Schönheit erstarren. Die Frage der Wirkung stellt sich heute unter der Konkurrenz des Fernsehens und der digitalen Medien neu. Sie ist ein Kommunikations- und Überzeugungsmittel neben vielen andern geworden.
Eine Passage aus Heimat-Rede von 1974 beeindruckt noch heute. Frisch sagte: „Es scheint, dass die jüngeren Landsleute weitaus gelassener sind, nicht unkritisch, aber gelassener. (...) Was beheimatet sie? Auch wenn sie im Land bleiben, leben sie im Bewusstsein, dass Vokabeln wie Föderalismus, Neutralität, Unabhängigkeit eine Illusion bezeichnen in einer Epoche der Herrschaft multinationaler Konzerne. Sie sehen, dass von ihrem Land nicht viel ausgeht; die Maulhelden aus dem Kalten Krieg haben ihre Karriere gemacht, sei es als Bankier oder in der Kultur-Politik oder beides zusammen.“ Was sagen Sie heute dazu?
Die Rede ist vierzig Jahre alt. In diesen vierzig Jahren hat sich die Situation noch zugespitzt. Es gibt jedoch sehr verschiedene „jüngere Landsleute“: Solche, welche die Relativität unserer Werte durch die Globalisierung erkennen, aber auch unsere Verantwortung in der Welt wahrnehmen wollen, damit von unserem Land eben doch „etwas ausgeht“. Aber es gibt auch solche, welche die Illusion völliger Unabhängigkeit beschwören. Und sie machen immer noch Karriere, ganz wie Frisch es damals feststellte.
Fehlt Max Frisch der Schweiz?
Nein, er ist ja immer noch da.
Würden Sie gerne wieder einmal einen Roman von Frisch lesen oder ein Stück von ihm sehen?
Da müsste ich zuerst mal meine neue Identität gefunden haben....
Moritz Leuenberger, herzlichen Dank für dieses Gespräch.