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Interview mit Bluewin

Vor 20 Jahren krönte Moritz Leuenberger seine politische Karriere mit der Wahl zum Bundesrat. Im Interview mit Bluewin schaut er zurück auf den grossen Tag, verrät, was er als Bundesrat verpasst hat und auch fünf Jahre nach seinem Rücktritt immer noch vermisst.

Moritz Leuenberger, am 27. September vor 20 Jahren wurden Sie zum Bundesrat gewählt. Eine Ewigkeit her oder erst gestern passiert?

Es war nicht gestern. Aber es hat mein Leben vollkommen verändert. Es war, zumindest beruflich, der grösste Einschnitt, den ich je erlebte. 

Hatten Sie damit ein Ziel erreicht, das Sie lange verfolgten?

Ich habe meine Rolle immer eher als Rhetoriker im Parlament gesehen. Erst in der Zeit des Fichenskandals, als ich das PUK-Präsidium innehatte, ist der Entschluss gereift, es versuchen zu wollen. Ich fand, es gehe nicht, dass ich immer nur mit dem Finger darauf zeige, was andere falsch machen, sondern müsse auch selber in die Verantwortung gehen. 

Woran denken Sie, wenn Sie an den Tag zurück denken?

Rückblickend habe ich bei der Wahl gar belastet reagiert. Ich war ganz offensichtlich müde, schaute fast ein wenig geknickt zu Boden. Ein wenig mehr Freude hätte ich zeigen dürfen. 

Welche Emotionen kommen heute auf?

Die Wahl ist eine Königsfeier, es ist unglaublich, was da alles abgeht. Sofort nach der Wahl wurde ich von Sicherheitsleuten beschlagnahmt und durch Menschenmengen geschleust – da wurde mir fast ein wenig «gschmuch». Ich musste lernen, gefeiert zu werden. Dabei wusste ich schon dort, es kommen auch andere Zeiten, in denen es die Wellentäler hinab geht. 

In Ihrem ersten Präsidialjahr 2001 etwa, da häuften sich viele schlimme Ereignisse. Mit dem Amoklauf in Zug und dem Brand im Gotthard seien nur zwei in der Schweiz genannt.

Das war auf weiten Strecken ein schreckliches, für mich aber ein sehr wichtiges Jahr, vor allem weil ich richtig in meine Rolle wuchs. Ich stand vorher immer auch ein wenig neben meinen Schuhen, habe mich selber beobachtet, mich als Bundesrat nicht immer so ernst genommen, wie die Aussenstehenden das Amt ernst nehmen. Diese Selbstironie kam nicht immer gut an. Als ich dann als Bundespräsident in so furchtbaren Momenten für die ganze Bevölkerung in Worte kleiden musste, was alle denken, habe ich mich völlig mit meiner Rolle identifiziert.

Was blieb Ihnen als extrem schönes Erlebnis in Erinnerung?

Als kritischer Städter lernte ich eine Schweiz kennen, die ich vorher nicht kannte. Die ländlichen Kulturen, über die ich teilweise auch Sprüche machte, bekam ich plötzlich gerne. Ich sah: Das sind alles Leute, die das Land lieben und die direkte Demokratie leben. Das öffnete mir Fenster zu unserem Land, die ich vorher nicht kannte. Das war eine Bereicherung.

Mittlerweile sind fünf Jahre seit Ihrem Rücktritt vergangen. Was vermissen Sie?

Die Menschen, mit denen ich sprechen konnte. Ich habe Entscheide immer mit Leuten besprochen, habe meine Meinung im Diskutieren gefunden. Nach dem Rücktritt hatte ich niemanden mehr um mich herum, war alleine. Völlig alleine. Das habe ich vermisst. Und vermisse ich immer noch. 

Worauf können Sie getrost verzichten?

Ich muss nicht mehr alles lesen, was über mich geschrieben wird. Das ist eine Erleichterung.

Vermissen Sie das Rampenlicht?

Nein, denn ich kann auf die Bühnen, auf die ich will. Ich halte viele Reden, werde immer wieder angefragt für politische und kulturelle Auftritte. Neu moderiere ich zum Beispiel den Bernhard-Apéro im Bernhard-Theater.

Was macht Altbundesrat Leuenberger abseits der Redepulte?

Ich arbeite immer noch zu 100 Prozent. Ich habe einige klassische Mandate, suche etwa im Auftrag des Bundesrates für die Asbestopfer eine Lösung. 

Welchen Stellenwert hat Politik noch für Sie?

Ich war immer Politiker und bin es auch jetzt noch. Jede kulturelle Rede, alle Mandate haben immer auch eine politische Dimension. Ich gehöre einer Generation an, die auch das private Leben, die gesamte Gesellschaft unter einem politischen Blickwinkel sieht. Bei der Generation nach mir hat sich das hin zu einem moralischen Blinkwinkel verlagert, was ich übrigens nicht bedaure. Ich sage nicht, «oh, wie traurig, die heutige Jugend ist nicht mehr politisch.» Aber ich selber bin es eben. 

Gibt es Themen, die Sie besonders intensiv verfolgen?

Ja natürlich, so wie für alle ist das im Moment auch für mich die Flüchtlingsfrage, sie beschäftigt mich sehr. Wir haben das abstrakt schon vor langer Zeit gesehen: Wenn innerhalb der EU die Grenzen aufgehoben werden, und solange der ökonomische Interessensausgleich nicht weltweit erfolgt, werden die Grenzen um Europa umso wichtiger. Jetzt zu erleben, wie das Risiko Gestalt annimmt... es ist nicht einfach, hier Verantwortung wahrzunehmen, ob man nun in Berlin oder in Bern sitzt.  

Wo müsste man anpacken?

Zu dieser Antwort mag ich mich nicht aufschwingen. Auch ich bin jetzt in der Rolle des politisch wachen Staatsbürgers, der nicht unbedingt eine Lösung hat. Und wenn er eine hätte, müsste er sie nicht belehrend in die Welt posaunen. 

Woher diese Zurückhaltung?

Ich kann mich sehr gut erinnern, wie es ist, wenn man die Fäden spinnt und dann kommen Zurückgetretene und sagen, wie man es machen sollte. Das nervt. Deshalb halte ich mich zurück. 

Das ist doch extrem anstrengend, immer noch dauernd aufpassen zu müssen, sich nicht zu sehr zu äussern...

...in der Öffentlichkeit. Im Privaten ist das natürlich etwas anderes. Ja, insofern habe ich eben auch nach dem Rücktritt noch eine Rolle, ich kann nicht immer alles sagen, was ich denke.

Was sagen Sie zum laufenden Wahlkampf?

Ich war sehr froh, dass die Energiewende fortgesetzt wurde. Es könnte sein, dass da nach den Wahlen andere Gewichte gesetzt werden. Da fiebere ich schon mit. 

Im Dezember sind Bundesratswahlen. Wagen Sie eine Prognose?

Ja. Aber keine öffentliche. 

Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf Ihr Leben jenseits von Öffentlichkeit und Politik. Was haben Sie durch Ihren Werdegang verpasst?

Es gibt viele Sachen, die ich gerne gemacht hätte, aber nicht dazu kam. Ich habe nie im Ausland studiert oder gearbeitet, habe mir dadurch auch die Agilität in anderen Sprachen nicht aneignen können. Ich wurde nie musikalisch ausgebildet. Das kann ich jetzt nicht mehr einfach nachholen. 

Gibt es etwas, dass Sie heute endlich tun können, wofür Ihnen früher die Zeit fehlte?

Wie «Endlich wieder ein Buch lesen» oder so? Nein, ich habe nie solche Träume geträumt.

Nächstes Jahr steht ein privates Jubiläum an – Sie werden 70. Welche Bedeutung hat das für Sie?

Uh, nein. Keine. Das ist ein Zahlenzufall. Die wahren Lebensabschnitte laufen nicht nach dem Dezimalsystem. Ich habe auch bei den vorherigen runden Geburtstagen nie ein Theater gemacht und werde auch jetzt keines machen.