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Eröffnung des Zentrums für Ethik und Nachhaltigkeit


Zentrum für Ethik und Nachhaltigkeit, ZEN-FHS
Eröffnung, Rorschach, 4.10.12

Beliebigkeit und Gewissn

Sie eröffnen ZEN. Eine verführerische Abkürzung! Was kommt uns da nicht alles in den Sinn? ZEN - Meditation, ZEN - Gärten, Ruhe, Weisheit, Konzentration von Körper und Seele. Die ethischen Grundsätze unserer ganzen Kultur haben sogar denselben Namen wie Ihr Institut: Die ZEHN - Gebote...

Auch der volle Wortlaut des Institutes klingt verheissungsvoll: Ethik und Nachhaltigkeit gehen uns leicht über die Lippen. Welches Produkt preist nicht seine Nachhaltigkeit? Welches Unternehmen nimmt nicht Ethik in Anspruch? Kürzlich las ich in einer Zeitschrift einen Artikel über „Ethic Design“ mit folgendem Lead:

„Wir trafen Designer, deren Ziel es ist, mit ihren Design-Entwürfen dafür zu sorgen, unsere Welt nicht nur schöner, sondern auch ein Stück verantwortungsvoller und ehrlicher zu machen.“

Eine ehrliche Welt dank Design! Beschrieben werden dann eine Designerin, die aus Vorhängen und Tischdecken Ballkleider schneidert, ein Designer von Elektromobilen, der so den Stau auf den Strassen abbauen will, und ein weiterer Designer, der Züge anmalt und sagt: „Mir geht es nicht primär ums Geldverdienen!“

Ja, das ist Ethik pur!

Ich erinnere mich auch an ein Postulat aus dem Nationalrat, das „mehr Ethik“ verlangte, nichts weniger, aber auch nichts mehr, und der Bundesrat solle sich doch dafür einsetzen. Mit 4 : 3 entschied sich dieser für „mehr Ethik“ und sicher ist Ihnen aufgefallen: Seither ist die Schweiz ein Stück ehrlicher geworden.

***

Gesinnungs- und Verantwortungsethik

Über Grundsätze wie Gleichheit, Gerechtigkeit oder Nachhaltigkeit sind wir uns rasch einig, je abstrakter die Grundsätze, desto rascher die Einigkeit und umgekehrt, je konkreter die Umsetzung, desto härter die Auseinandersetzungen. Die Präambel der Bundesverfassung beginnt mit „Im Namen Gottes des Allmächtigen“. Da herrscht noch himmlischer Friede, doch später, bei Gesetzen und Verordnungen, kommen die Details. Und wer sitzt dort? Der Teufel.

Um diese beiden Brennpunkte kreist die Ellipse der Politik:

Hier eine Präambel, eine Charta oder Grundsatzerklärungen für unser Gewissen - dort die tagespolitische Realpolitik mit Rankünen, Willkür und Beliebigkeit.

Max Weber hat diese Brennpunkte in seiner Rede „Politik als Beruf“ als Gesinnungsethik und Verantwortungsethik umschrieben, zwei Begriffe, die sich in der Politikwissenschaft eingebürgert haben. Weber sieht eine Unvereinbarkeit der beiden Begriffe, insbesondere weil der Staat das Gewaltmonopol innehat, also strafen oder Krieg führen darf.

Die These liefert, das werfe ich ihr vor, den wissenschaftlichen Unterbau für das viel verbreitete Vorurteil, die Politik sei zwingend ein schmutziges Geschäft.

Der Zürcher Literaturprofessor Peter von Matt schreibt in seinem Buch „Die Intrige in der Literatur“ sogar, in der Politik müsse gelogen werden:
„Die Verantwortungsethik (also die Realpolitik) denkt an beides, an das sittliche Prinzip und an die Folgen. Sie weiss sich auch für die Folgen verantwortlich..... Also muss sie gegen die absolute Norm zum Beispiel der Bergpredigt verstossen. Also muss sie zurückhauen, statt die linke Backe hinzuhalten. Also muss sie – Weber sagt es nicht so krass, aber auf solche Krassheit läuft es hinaus – schlecht handeln um des guten Zweckes willen, muss lügen, ungerecht sein, Gesetze biegen und sich zielgerichtet verstellen.“

Immer wieder versuchte ich, diese These als unberechtigtes Vorurteil zu widerlegen, zuletzt in meinem Buch über die Lüge in der Politik. Ich fürchte, es sei mir nie überzeugend gelungen. Ich versuche es heute erneut:

Gesinnung und praktische Verantwortung können nicht getrennt werden

In der Tat ist es die eine Sache, Grundsätze zu entwickeln, wie die Welt aussehen sollte, wie sich jedermann verhalten müssste, damit die Vision einer gerechten Gesellschaft erreicht werden kann. Und gewiss ist es eine andere Sache, diese Überzeugungen umzusetzen.

Das eine ist die geistige Arbeit am philosophischen Reissbrett, die Vision für eine ideale Welt, das andere ist die Auseinandersetzung mit der technischen oder politischen Realität, den Grenzen der Machbarkeit, verbunden mit dem Schmieden von Kompromissen, dem Kämpfen mit List und Taktik.

In der politischen Diskussion übernehmen die Kirche oder NGOs, wie Greenpeace hauptsächlich die Rolle, eine Vision zu skizzieren, während der Berufspolitiker in einer Regierung, gefangen in den Zwängen der realen Machtverhältnisse, nur die Richtung zur idealen Vorstellungen einschlagen, diese aber nie erreichen kann.

Das sind zwar verschiedene Rollen, beide sind notwendig, die Rolle der Mahner, die das öffentliche Gewissen stärken und diejenigen der Macher, welche versuchen, diese Erkenntnisse umzusetzen. Das kann zu Rollenkonflikten kommen, insbesondere dann, wenn die Rolle gewechselt wird.
Beispiel: Der Film „Joschka und Herr Fischer“: Fischer übernimmt als Pazifist Regierungsverantwortung und entschliesst sich nun in seiner neuen Rolle für eine Intervention im Balkan, um dort Mord, Vergewaltigung und Krieg zu verhindern. Das führt zu heftigen Auseinandersetzungen am Parteitag der Grünen zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Einer beeindruckenden Rede Fischers folgt dann zumindest bei einer Mehrheit der Basis, dass das blosse Verharren auf den pazifistischen Gesinnungsgrundsätzen angesichts des Elends im Balkankrieg zur Beliebigkeit verkommen muss.

Weniger dramatisch als an diesem Parteitag, wo Farbbeutel flogen und es zu Tumulten kam, aber nach dem gleichen Muster, verlaufen die Auseinandersetzungen in der täglichen Politik:
Der Mahner sagt: „Unsere Erde soll den Kindern so hinterlassen werden, wie wir sie angetroffen haben.“ Das ist gut so, aber die Deklamation der Vision genügt nicht. Es braucht auch den Macher.
Dieser muss dann sagen: „Um den Klimawandel zu stoppen, wäre es zwar notwendig, den CO2 Ausstoss um 40% zu reduzieren, aber ich kann unter den Mehrheitsverhältnissen in Regierung und Parlament nur ein Ziel von 20% im Gesetz festschreiben.“

Wer Verantwortung übernimmt, kann sich also dem visionären Ziel nur nähern, es aber nicht erreichen. Kann ich das als Regierungsmitglied vor meinem Gewissen rechtfertigen?
Ja. Nämlich immer dann, wenn ich alles in meiner Macht stehende unternommen habe, um der gerechten Vision so nahe wie möglich zu kommen.

Daran sehen wir aber auch, dass die Rollen eben nicht scharf getrennt sind, sondern sich immer überlappen. Ein Visionär denkt auch an die Umsetzung und ein Macher hat auch seine Vision. Die Rollen vermischen sich oft in einer Institution oder in einer Person. Der Pfarrer ist auch Bürger und der Politiker ist auch Mitglied der Kirche.

Die Trennung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik kann nicht scharf gezogen werden. Jeder Mensch hat beide Rollen zu erfüllen. Wer sich nur auf die eine Rolle konzentrieren und von der anderen nichts wissen will, der entzieht sich der gesellschaftlichen Verantwortung.

Allein deswegen, weil also die Gesinnung und die Umsetzung gar nicht von einander getrennt werden können, leuchtet eine Spaltung in zwei verschiedene Ethikbegriffe nicht ein. Die sittliche Maxime ist im einen und im anderen Falle dieselbe.

 

Gewaltmonopol und ethisches Handeln

Auch das Gewaltmonopol des Staates, Weber beruft sich darauf, ist keine Rechtfertigung seiner These.

Macht hat nicht nur der Staat. Macht ist Einfluss. Macht übt jeder aus, im Geschäftsleben, im Privatleben.

Politische Macht, also die Macht, das Gemeinwesen zu gestalten, hat nicht nur der Politiker im engeren Sinne, also der Berufspolitiker, dem sich Weber in seiner Rede widmet. Die Medien, die NGOs, die Kirche, die Banken, jeder Einzelne hat Macht, nicht unbegrenzt, das hat niemand. Macht verlangt ein geschärftes Verantwortungsbewusstsein aber sie kreiert deswegen keine eigene Ethik. Das ist ein quantitativer Unterschied, kein qualitativer.

Sodann: Macht wird auch im privaten Bereich ausgeübt. Denken wir an das Recht zu künden, an die Erziehung, an die verbale oder psychologische Macht.

Gibt es Methoden, um das Gewissen zu schärfen?

 

Trigonometrie als Methode der Ethik in der Demokratie

 

Ich erlaube mir, zu einem abstrakten Hilfsmittel zu greifen, das mir schon oft half, Gedanken zu ordnen. Es ist einer Trigonometrie des Denkens, ausgehend von drei Polen, zwischen denen ethische Fragen der Politik kreisen. Auch die Begriffe der Nachhaltigkeit und der Verantwortung lassen sich mit diesem Gedankendreieck besser begreifen.

1.Es gibt einen ersten Pol, das „Ich“, meine eigene Freiheit.

  1. Die grenzenlose Freiheit zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse gibt es jedoch für keinen Menschen. Er muss seine eigenen Ansprüche eindämmen, weil er an die Freiheitsbedürfnisse anderer stösst. Er entdeckt so den zweiten Pol, das „Du“: Er muss sich mit seinem Nachbarn einigen. In einem Vertrag stecken sich Ich und Du gegenseitig den Freiraum ab, in welchem sie sich je entfalten können.
  2. Doch auch die beiden Nachbarn Ich und Du leben nicht allein in der Welt. Ihr Vertrag schützt sie nicht vor Dritten und nicht vor der Natur. Der dritte Pol ist das „Er, sie es“, andere, darunter auch nicht individuell bestimmte Menschen oder die Umwelt. Damit ich und du und ihre Nachkommen friedlich leben und sich entwickeln können, müssen sie diese unbekannten Dritten einbeziehen, sie schützen und auch in die Pflicht nehmen und dazu eine abstrakte Ordnung mit Normen und Regeln schaffen.

 

Die drei Säulen der Nachhaltigkeit als Anwendungsbeispiel:

Nicht zufällig gründen Sie ein Zentrum für Ethik und zugleich für Nachhaltigkeit.

Im Gedanken der Nachhaltigkeit. Wie sie von Gro Brundtland für die UNO definiert wurde, finden wir dasselbe Triangel:

-       Wirtschaftsverträglichkeit als das „Ich“

-       Sozialverträglichkeit als die Auseinandersetzung mit dem „Du“

-       Umweltverträglichkeit als komplexer und anspruchsvoller Einbezug von Dritten (abwesende Menschen oder die Natur) als Begegnung mit dem „Es“.

Zwischen diesen drei Polen spielt sich das politische Geschehen ab. Jeder der Pole hat seine eigene Bedeutung und Berechtigung, damit politische Zielkonflikte bewältigt werden können:

„Ich!“: Die politische Legitimation des Egoismus

 Nicht nur der Säugling konzentriert sich zunächst mal ausschließlich auf sich selber. Das Ich, das eigene Interesse gibt die ethische Richtung vor, in der Familie, im Beruf und im öffentlichen Leben. Ich denke immer zuerst an mich, auch in meinem Verhältnis zum „du“ und in demjenigen zu den anderen, zum „es“:

-       Im Verhältnis zum zweiten Pol:

  1. Ein Vertrag wird zur maximalen Absicherung der eigenen Bedürfnisse formuliert.
  2. Und auch wenn ich karitativ und altruistisch erscheine, ist doch immer auch ein egoistisches Motiv dahinter.

Für den Einsatz zugunsten der Armen oder Obdachlosen habe ich das Entgelt, ein Wohltäter zu sein, öffentlich oder auch nur vor mir selber.

Wir sind soziale Wesen, weil wir von unserem ureigenen Interesse aus handeln. Deswegen helfen wir und nehmen Verantwortung für andere wahr. Der selbstbezogene Antrieb kann ebenso Gutes hervorbringen wie der Altruismus Schlechtes bewirken kann.

Die politische Diskussion über Gut und Böse ist deshalb auch an der Wirkung und nicht bloss an der Absicht zu führen. Was bringt es, in psychologische Tiefen anderer dringen zu wollen? Solch inquisitorische Gesinnungsforschung kann zu Gesinnungsterror führen und zu so läppischen Aussagen wie: „Er oder sie ist nicht richtig sozialistisch“ oder „er ist zu wenig bürgerlich“. Das führt zur Ideologisierung der Politik, zu Glaubensbekenntnissen und schließlich zu Glaubenskriegen. 

-       Im Verhältnis zum dritten Pol:

Auch wenn wir abstrakte Ordnungen schaffen, insbesondere in der Politik also, denken wir zunächst an uns.

Zunächst sehr unmittelbar: Im Grunde genommen hat sich das Wesen der Politik als eines Marktes der ständischen Interessenvertretung, wie sie Max Weber in seiner berühmten Rede ausführlich schildert, kaum verändert. Die Bauern, die Bergkantone, die Industrie, der Mittelstand, die Gewerkschaften, die Umweltverbände, sie alle kämpfen für die eigenen Interessen, um Subventionen, für (die eigene) soziale Sicherheit, um Wettbewerbsvorteile, für die eigene Gesundheit, für das eigene Wohlbefinden in der Natur.

Und auch hier ist es so, dass altruistische Überzeugungen für das Gemeinwohl auch egoistisch motiviert sind. Wir kennen die Argumentationen:

  1. „Wenn wir soziale Gerechtigkeit schaffen, verhindern wir Unruhen und Revolte.“
  2. „Die Förderung erneuerbarer Energien erlaubt technische Innovation und Chancen auf dem Exportmarkt.“
  3. „Entwicklungshilfe verhindert Flüchtlinge, die sonst wegen Armut, Umweltschäden oder Krieg zu uns kommen.“

Das sind Begründungen, die vom „Ich“ ausgehen. Das ist natürlich und auch legitim.

„Du“: Die politische Kraft des barmherzigen Samariters

Das private Verhalten zum Du, zu meinem Mitmenschen ist ebenso von grosser politischer Sprengkraft.

Erinnern wir uns an den barmherzigen Samariter:
"Es war ein Mensch, der fiel unter die Räuber, die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und liessen ihn halb tot liegen. Ein Samariter, der auf der Reise war, kam daher und wie er ihn sah, jammerte er ihn. Und er ging zu ihm, goss Oel und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.“

Der barmherzige Samariter hat einem halb toten Menschen das Leben gerettet und sorgte für seine Genesung, sonst wäre er gestorben. Das ist eine soziale Tat von politischer Dimension. Es gibt keine soziale Ordnung ohne dieses Engagement einzelner Menschen. Die politische Dimension ist jedoch grösser als die unmittelbare Hilfe, denn es gibt auch mittelbare Folgen:

"Wer heute Böses leidet, wird morgen Böses tun."
Wie sich diese Wahrheit über Jahrtausende perpetuiert, erleben wir nicht nur im Nahen Osten. Es gibt eine Umkehr dieser Regel:

"Wer heute Gutes erlebt, wird morgen Gutes tun."
Deswegen forderte Jesus: "So gehe hin und tue desgleichen."

Dass wir einander Vertrauen entgegen bringen, dass wir einander helfen, dass wir uns freiwillig einsetzen, haben wir immer auch vorgelebt erhalten von unseren Eltern oder Vorbildern (nicht immer identisch).

Das führt uns direkt zum dritten Pol:

Er, sie, es: Die systemische Politik

Wir wollen, dass allen, die es nötig haben, geholfen wird. Wir wollen, dass es keine Räuber gibt, die jemanden halb oder ganz totschlagen. Wir wollen nicht, dass es Menschen gibt, die, obwohl sie arbeiten, nicht genug zum Leben haben.

Das muss geplant und organisiert werden.

Dieser dritte Pol ist für die Gestaltung eines Gemeinwesens der wichtigste.

Deswegen erlassen wir Gesetze über Fürsorge, Vorsorge, Sozialversicherungen, Krankenversicherungen oder das Opferhilfegesetz, das sich unter anderem um "zusammengeschlagene, halb tote Opfer" kümmert. Der Staat erlässt Normen, damit es keine Räuber gibt: Gleichheit, Umverteilung, Verhinderung von Armut, damit niemand zum Räuber werden muss. Aber auch ein Strafgesetz, damit Räuber bestraft werden. Diese Strafe soll potentielle Räuber abschrecken, und sie soll die Rachegedanken der Opfer zufriedenstellen, damit sie keine Privatrache ausüben. Und der Staat gibt sich selber Regeln, damit Polizei und Justiz die Menschenrechte einhalten.

Zusammenspiel und gegenseitige Abhängigkeit der drei Pole

Das führt zu komplexen Interdependenzen zwischen den drei Dimensionen.

Beispiel: Androhung von Folter, um ein entführtes Kind zu finden und zu retten?
Ein Polizeikommandant drohte einem Entführer Folter an, damit dieser den Aufenthaltsort des entführten Knaben bekannt gab. Mit dieser Drohung wollte er das Leben des Kindes retten. Eine solche Androhung ist verboten und so wurde der Polizeikommandant angeklagt. Das Gericht fand die Lösung darin, dass es ihn schuldig sprach (er hat das Gesetz verletzt) aber von einer Strafe Umgang nahm. Hinter dieser Lösung, die das Strafrecht vorgibt, schimmert das Verhältnis zwischen zweitem und drittem Pol: Der Polizeikommandant wählte eine verbale Androhung gegen einen Verbrecher, um das Leben des Knaben zu retten. Im Verhältnis zwischen den Betroffenen ist das verständlich. Deswegen erfolgt keine Strafe. Aber dadurch wird das Vorgehen nicht legitimiert, denn sonst könnte ja Folter stets angedroht und folglich müsste sie ja auch einmal angewendet werden. Das würde zur Verletzung von Menschenrechten führen und kann nicht toleriert werden. Deswegen der grundsätzliche Schuldspruch.

Solche Überlegungen sind kompliziert, nicht nur in diesem Fall. Es ist einfacher, politische und ethische Fragen nur gerade anhand des ersten Poles zu diskutieren.

Die mediale Personalisierung ist eine solche Vereinfachung. Sie droht, politische Probleme auf das individuelle Verhalten der gesellschaftlichen Exponenten zu reduzieren: Statt über die systemischen Massnahmen zur Reduktion des CO2 Ausstosses zu diskutieren, wird gefragt: „Was tun Sie persönlich für den Umweltschutz?“ Als ob die Klimaerwärmung gestoppt würde, wenn der Umweltminister Velo fahren würde.

(Das führt zu noch viel beliebigeren Lösungen, wie wir die Umwelt retten könnten:

-       Ich tue etwas für die Umwelt, ich besuchte mit meinem Sohn den Eisbär Knuth.

-       Interview einer Ständeratskandidatin: „Was tun Sie für die Umwelt?“ Antwort: „Ich verzichte konsequent auf ein Zweitauto.“

-       Bevor Sie diese Mail ausdrucken, denken Sie an die Umwelt (also nicht etwa das Mail nicht ausdrucken, sondern ausdrucken und an die Umwelt denken...) 

  • Exkurs: Liebe, Moral, Gesetz

-       Gewiss, es würde genügen, wenn alle Menschen sich so verhielten, dass die Interessen aller gewahrt würden, auch diejenigen der Nachfahren, auch der Umwelt und der Natur. Pfarrer Jeremias Gotthelf predigte ein solches Verhalten. Er sah die zwischenmenschliche Liebe als die Grundlage einer Gesellschaft. Das ist eine religiöse Utopie.

-       Die real existierende Welt braucht Normen, Regeln und Gebote, etwas zu tun oder zu unterlassen. Das ist zunächst die Moral. (Sie ist nicht a priori etwas Gutes. Moral kann auch verlogen sein.) Kriterium ist, dass sie ohne staatliche Sanktionen, sondern nur mit gesellschaftlichen Mitteln, also mit Verachtung, mit Ausgrenzung etc. durchgesetzt wird.

-       Weil sich aber nicht alle an diese Normen halten, braucht es auch staatliche Gesetze, Vorschriften und Verbote, deren Übertretung mit Strafe geahndet wird. Es werden zunächst abstrakte Werte formuliert wie Freiheit, Solidarität oder Nachhaltigkeit, denen die Menschen nachleben sollen. Von diesen Werten und Überzeugungen werden dann die konkreten Regeln abgeleitet, an die sich die Menschen zu halten haben.

Die Interaktion der drei Pole zeigt auch, dass nicht eine verschiedene Ethik für das Privatleben und das Berufsleben und die Politik gesprochen werden kann, und sie widerlegt die These Webers und von Matts.

Welcher Kompass zwischen den drei Polen?

Die blosse Theorie von drei Polen bewahrt natürlich nicht von beliebigen Lösungen:
Bsp: Als wir im UVEK eine Nachhaltigkeitsstrategie entwarfen, führte dies bei den rein wirtschaftlich orientierten Ämter zunächst zu einer Abwehrhaltung gegenüber der Nachhaltigkeit, weil sie als reine Umweltthese betrachtet wurde. Um der ungeliebten vorgegebenen Strategie zu entsprechen wurden zum Beispiel in einem Bericht über die Luftfahrtpolitik mit der Suchmaschine im Computer einfach alle Ausdrücke, die vorher „Orientierung an der Nachfrage“ hiessen, umgewandelt in „Orientierung an der Nachhaltigkeit“. Am Inhalt wurde nichts geändert.

Das ist beliebiger Kleiderwechsel, das Umhängen eines grünen Mäntelchens und nicht die ethische Auseinandersetzung mit der Materie.

Die drei Säulen der Nachhaltigkeit erlauben nicht, dass zwischen ihnen jongliert wird, um irgendeine beliebige Lösung argumentativ zu rechtfertigen. Das wäre Beliebigkeit statt Gewissenhaftigkeit. Nachhaltigkeit hat ein übergeordnetes Ziel, nämlich die Umwelt den kommenden Generationen so zu hinterlassen, dass sie in ihrer freien Lebensgestaltung nicht behindert sind.

Wie schärfen wir also das Gewissen? Wie vermeiden wir Beliebigkeit und wie schärfen wir das Gewissen?

Die Sprache führt uns über drei Stufen zum Wesen der Verantwortung

Dazu möchte ich das Dreieck der politischen Ethik auch noch sprachlich angehen:

  1. Es gibt die erste Dimension, das Wort.

Ich drücke mich aus. Ich nutze das Wort. Das Wort bewirkt, es hat Macht. Worte sind Ausdruck komplexer Gedankengänge oder Überzeugungen:
„Am Anfang war das Wort.“ Das Wort ist die Quelle der Sinngebung. Worte sind das Berufswerkzeug von Kultur, Politik und Medien. Manifeste, Streitschriften, Romane, Kolumnen haben die Welt, die kleine und die grosse, bewegt.

Die Zehn Gebote, Luthers Thesen, die Erklärung der Menschenrechte, das sind Worte, welche die Welt veränderten. Es gibt auch schlechte Beispiele: Das Boot ist voll oder „wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.“

  1. Die zweite Dimension, die Antwort

Damit das Wort mit seiner Macht nicht zur Willkür verkommt, braucht es das Gegenwort, das Anti - Wort. Wer redet, muss die Gegenrede hören.

Ein Journalist, der eine Geschichte nicht zu Ende recherchiert und seine Thesen nicht verifiziert aus Angst, „die Story könnte sonst sterben“, der lässt keine Antwort zu.

Die Gegenrede zu organisieren ist ein Mittel gegen Willkür. Es ist die Kontrolle der Macht, was auch schon wieder aus dem Wort selber hervorgeht: Kontrolle heisst „Kontra Rolle“, also Gegenrolle. Das Parlament ist die Kontrolle der Regierung und umgekehrt. Die Mitarbeiter eines Bundesrates sollten, in erster Linie angestellt werden, damit sie ihm Gegenwort bieten können. Früher haben Bundesräte persönliche Mitarbeiter bewusst aus anderen Parteien bestellt. Heute ist es durchwegs die eigene Partei, das stärkt die parteiliche Einseitigkeit und führt zu einer Ideologisierung.

Die Gegenrede zu organisieren, sich selber zu hinterfragen, sich einen kritischen Gegner vorzustellen, ist ein Mittel gegen Beliebigkeit, gegen billige und simple Lösungen, die eben nicht genügen.

  1. Die dritte Dimension, die Verantwortung

Nun kann ich nicht in jedem Falle eine konkrete Antwort bestellen. Die künftige Generation kann ich nicht dazu befragen, was sie von einem nuklearen Endlager hält. Mit den vom Aussterben bedrohten Spinnen im Amazonas kann ich auch nicht über Biodiversität diskutieren. Ich brauche aber für meine politische Arbeit auch eine Antwort von demjenigen, der sich gar nicht direkt an mich wenden kann. Ich muss mir also seine Fragen abstrakt vorstellen und ich muss sie ihm imaginär beantworten.

-       Was würden wir einer künftigen Generation antworten, wenn sie uns fragen könnte, was wir gegen das Ozonloch taten?

-       Wie würden wir in dreitausend Jahren bei einem KKW Unfall argumentieren und die heutige Argumentation zugunsten neuer KKWs rechtfertigen, die lautet: „Ein Superunfall ereignet sich statistisch gesehen nur alle dreitausend Jahre.“ Welches Recht haben wir gegenüber der künftigen Generation, einen Unfall in dreitausend Jahren weniger schlimm zu finden als einen Unfall heute?

Dieser innere Dialog mit einem imaginären Gesprächspartner bedeutet, das eigene Gewissen zu befragen und ihm, das heisst einem imaginären Vertreter einer späteren Generation oder auch einem Richter, einer PUK, einem Gott zu antworten.

Das ist die dritte Dimension von Wort und Antwort, die Ver-ant-wortung. Dies ist der Sinn der Verantwortung: Das Gewissen zu befragen und ihm eine Antwort geben zu können. Verantwortung bedeutet die Schärfung des Gewissens.

 

Das erfordert die Auseinandersetzung mit den Details, in denen der Teufel sitzt:

Beispiele:

  • Atomausstieg. An einem Institut der Uni Zürich wurde die ethische Bewertung aller Massnahmen, die für einen Ausstieg ergriffen werden müssten, bewertet. Es ergab sich folgende Reihenfolge (die ethische Vertretbarkeit absteigend):
  1. Energieeffizienz und Verzicht auf Energie,
  2. Förderung erneuerbarer Energien mit den damit verbundenen Zielkonflikten für die Umwelt: höhere Staumauern, ästhetisch störende Windräder, blendende Solar Panels .
  3. Atomkraftwerke (Schäden an künftigen Generationen durch Verstrahlung)
  4. Verhinderung CO2 Ausstoss (Klimaänderung)

Stimmt das? Hat der CO2 Ausstoss tatsächlich die verheerenderen Konsequenzen als ein Atomunfall? Dazu ist Fachwissen erforderlich, darüber ob die Verstrahlung vererbbar sei und in welchem Ausmass etc.

  • Elektromobile. Verlauf der ethischen Diskussion: zuerst bejubelt (ethic design), heute Zweifel.
  • Biotreibstoffe (Verlauf der Diskussion: vor zehn Jahren war die Welle oben. Biotreibstoffe waren per se gut. Dann kamen Erkenntnisse über steigende Lebensmittelpreise, über Abholzung des Regenwaldes. Gelobt wurden jetzt „2. Generation“ der Biotreibstoffe. Heute gibt es neue Studien: sehr kompliziert. Schlusserkenntnis: Um die Ökobilanz eines Biotreibstoffs abschließend beurteilen zu können, muss man sich seine spezifische Produktionskette vollständig anschauen.)
  • Moratorium Genpflanzen: Die ideologische Fixierung entweder nur auf die Nachteile und Gefahren oder nur auf die Vorteile ist eine Flucht aus der sorgfältigen Analyse von Risiken und Gefahren.
  • Mohamed Karikaturen: Meinungäusserungsfreiheit gegen Intoleranz. Sobli: Freiheit bedeute auch Freiheit zur Provokation und für „Bösgemeintes“. Das stimmt gewiss. Aber kann man diese Freiheit ausleben, wenn sie die Landsleute in den Botschaften vor dem fanatisierten Mob in Gefahr bringt?
  • Jede tagespolitische Auseinandersetzung stellt eine ethische Diskussion dar. Nicht nur Diskussionen um Gentechnologie oder Sterbehilfe sind ethischer Natur, sondern auch solche
  1. Hinter scheinbar vordergründigen Diskussionen um Stau und zweite Röhre am Gotthard öffnen sich Fragen um Nachhaltigkeit, um Mobilität und Sinn der Lebensgestaltung.
  2. Welche strafrechtlichen Sanktionen gegen Verkehrssünder?
  3. Ausschaffung krimineller Ausländer?

Ethik ist nicht die Formulierung hehrer Grundsätze, nicht die Pflege eines harmonischen ZEN Gartens, Ethik und Nachhaltigkeit heissen

-       Auseinandersetzung mit den Details der jeweiligen Materie. Da genügt eben das ganzseitige Inserat einer schweizerischen Privatbank nicht, wo stolz verkündet wird: „Wir sind nachhaltig, wenn es um unsere Prinzipien geht.“ Ja wie steht es denn mit den Anlagen in den Fonds? Im Nachhaltigkeitsfonds einer Kantonalbank fand ich UBS Aktien und solche von der Citybank.

-       Ethik bedeutet sich hineinknien in die Widersprüche, sich um die Details kümmern, den vielen Teufelchen begegnen, die dort sitzen und uns einfache Lösungen verunmöglichen.

-       Ethik ist die spannende Auseinandersetzung mit den täglichen Problemen, für die es nie endgültige klare Antworten gibt. Ethik besteht nicht darin, Kalendersprüche oder die heutigen Weisheiten auf Zuckerbeutelchen im Restaurant zu lesen.

-       Der Rückzug auf billige Wahrheiten verkommt zur Ideologie und ist das Gegenteil von Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewissen, also das Gegenteil von ethisch legitimierter Verantwortung, nämlich die Scheu, sich mit allen Facetten, mit Vorteilen und Nachteilen auseinanderzusetzen.

In der Tiefe dieser Details bilden sich nicht Ideologien, sondern es öffnen sich ganz neue Dimensionen:

  • Wenn wir uns im Detail mit Strassenverkehr befassen, sehen wir: „Du sollst nicht töten“ bedeutet mehr als nur von Mord absehen, es verpflichtet auch, die Sicherheit der Infrastrukturen, die Vorschriften über Geschwindigkeit, Gurtenobligatorium und Alkohol am Steuer oder das Gesundheitswesen so zu organisieren, dass möglichst wenig Menschen sterben.
  • Wenn wir zu solchen Details erbittert streiten, realisieren wir auch: In jeder Aussage, auch der des erbittertsten Gegners, das Körnchen Wahrheit suchen, das sich gewiss finden lässt. Das führt uns direkt zur ethischen Frage des Tonfalls, der Art des politischen Streitens und das Wesen des ethischen Diskurses.

Sie werden in Ihrer Arbeit im ZEN in spannende Schlunde tauchen und dort teuflische Details antreffen, doch gerade diese Arbeit wird Ihnen wieder neue Horizonte öffnen, die Sie zu den ganz grossen Fragen unseres Lebens und unserer Welt führen wird.

Ich beglückwünsche sie zur Gründung des ZEN. Das ist mit Recht eine verführerische Abkürzung und ich hoffe, Sie werden nachhaltig verführt.