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Rituale in der Politik


30.03. - Referat am Internationalen Kongress “Rituale in Alltag und Therapie”, Zürich

Bevor ich das erste politische Ritual zelebriere, ohne dass Sie es merken, möchte ich Sie doch vorher auf dieses aufmerksam machen: Auf die Anrede. Ich habe sie keineswegs vergessen. Wie könnte ich auch, weiss ich doch als Politiker sehr wohl, welch grosse rituelle Bedeutung ihr zukommt:

Frau Tagungspräsidentin,

Meine Damen und Herren,

Die Begrüssung ist ein politisches Ritual und bringt eine inhaltliche Ordnung zum Ausdruck, zum Beispiel:

“Herr Nationalratspräsident, Herr Präsident des Kantonsparlamentes, Frau Regierungsrätin, Herr Stadtpräsident”.

Dies ist die klassische Reihenfolge, die zeigt: Die Bundesbehörden stehen in der Hierarchie über den kantonalen und diese über den Gemeindebehörden. Innerhalb dieser Kategorien kommen die Parlamentsvertreter zuerst, weil das Parlament über der Regierung steht – gemäss Schweizer Verfassung. In Deutschland gilt die gerade umgekehrte Reihenfolge.

Nun ist es so, dass ich heute als Erster spreche. Das widerspricht jedem Ritual: Ein Bundesrat spricht zuletzt, ein Bundespräsident sowieso. Also breche ich an diesem Kongress ein politisches Tabu – was wohl als Revolution in die Geschichte eingehen wird. Ich hoffe sehr, dass Beat Kappeler und Richard Reich sich ihrer Jahrtausendverantwortung bewusst sind.

Wer einen politischen Inhalt in Frage stellen will, durchbricht das Ritual. Es gibt ParlamentarierInnen, die lassen bei ihren Interventionen die Anrede vollständig weg. Sie wollen nicht etwa unhöflich sein, sondern zeigen, wie unabhängig von allen Konventionen, traditionellen Ehrerbietungen und Hierarchien sie sind.

Die traditionelle Eröffnungsrede am Automobilsalon begann ich mit:

“Sehr geehrte Damen und Herren,

Sehr geehrte Automobile und Automobilinnen”

Durch ein verändertes Ritual wurde so die mythische Überhöhung des Automobils in diesem Salon angesprochen, wie sie dort mittels weiblicher Attribute gepflegt wird, die sich mitunter auch auf Bundespräsidenten stürzen. Ich bediente mich dazu der leichten Veränderung eines Rituals, der Anrede nämlich, und die Botschaft wurde denn auch verstanden, jedoch nicht überall goutiert, wie bissige Kommentare bewiesen.

1. Definition des Rituals

Als mich Ihre Präsidentin vor langer Zeit eingeladen hat, hier über “Rituale in der Politik” zu reden, habe ich mich spontan gefreut und mir gedacht: “Das wird lustig. Soll ich mich von meinem Weibel begleiten lassen?” Das wird von mir vor allem für Jubiläumsreden immer wieder verlangt. (“Bitte, unsere ausländischen Gäste haben das so gern.”)

Spontan glaubte ich also zunächst, Rituale seien stets etwas Überholtes, ja Lachhaftes, ertappte mich dann aber dabei, dass ich nur an überlebte Rituale und damit an überlebte Inhalte dachte. Die Heiterkeit ist dann also rasch verflogen. Das ist zwar immer der Fall, wenn ein Auftritt naht. Hier kam aber durch die nähere Auseinandersetzung mit dem Thema die Erkenntnis dazu, dass ein Ritual als solches ja gar nicht lustig ist. Lachhaft wird es nur, wenn es oder sein Inhalt nicht mehr akzeptiert wird. Nur gerade mit solchen Beispielen aus der Politik will ich mich aber heute nicht begnügen. So einfach darf ich mir es nicht machen - und Ihnen auch nicht.

  • Das Ritual selber ist wertfrei. Es transportiert aber einen Inhalt, der nie wertfrei ist.
  • Ein Ritual ist eine wiederkehrende Handlung, die nach einer festgelegten Ordnung vorgenommen wird und einen Inhalt – nicht nur, aber auch - durch Symbolik vermittelt.

2. Rituale in der Politik

Jede Staatsform kennt ihre Rituale. Denn schliesslich muss die Politik ja für alle fassbar und sichtbar gemacht werden.

Bei der Monarchie kennen wir verschiedene Inthronisationsrituale, je nach dem, ob es sich um eine konstitutionelle oder von Gott abgeleitete Monarchie handelt.

Es gibt auch verschiedene 1. Mai-Feiern: Eine 1. Mai-Militärparade in Moskau stand für ein totalitäres System, während in Zürich eine so genannte 1. Mai Nachdemo heute zum Anarchoritual geworden ist.

Auch die Demokratie kennt ihre Rituale.

Sie sind zwar oft nicht gar so eindrücklich und spektakulär wie diejenigen der Monarchien, und ich werde deshalb oft den Eindruck nicht los, es gebe auch bei uns Demokraten und Demokratinnen den verborgenen Wunsch nach Königen und Prinzessinnen. So bereitet die Boulevardpresse ihre Leserschaft offensichtlich auf die Hochzeit einer echten Prinzessin vor - in einem schweizerische Zirkuszelt. Das wird gewiss eine glanzvollere Sache sein als die Inkraftsetzung unserer total revidierten Bundesverfassung: Dies geschah seinerzeit mittels einer Agenturmeldung der Schweizerischen Bundeskanzlei.

Man kann diese etwas spartanische Ritualkultur der Schweiz bedauern. Peter von Matt (in “Verkommene Söhne, missratene Töchter” S. 355) zum Beispiel schreibt: “Die Demokratie hat im Arsenal der grossen Träume keinen Platz. Ihr Wesen ist der Kompromiss, sie ist unansehnlich von Natur aus, es mangelt ihr an phallischen Armaturen, sie widerspricht dem biogenetischen Programm des Homo sapiens.” Der Mensch sehne sich nach Kaisern, Königen und Zaren, er habe ein Bedürfnis nach dem rhythmisierten Kollektiv, nach Glanz und nach Kitsch auch in der Politik.

“Das ist doch das einzige Land, wo ein Bundespräsident ohne Bodyguards herumspazieren kann”, höre ich stets wieder auf dem Markt oder im Bahnhof. Es scheint mir manchmal, da schwinge auch ein wenig Bedauern mit, dass die Macht hierzulande nicht etwas auffälliger, würdiger und gepanzerter daherkomme. Viele hätten lieber einen “richtigen” Auftritt von mir, das heisst: noch eine kleine Entourage mit Knöpfen im Ohr. Oder zumindest einen Bundesweibel im Hintergrund.

Nach einem Auftritt in einer Region, sei es zu einem Jubiläum, sei es zu einem politischen Streitgespräch, erhält der bundesrätliche Redner oft einen Korb mit lokalen Produkten der Landwirtschaft. Ich glaube, das ist auf den Zehnten zurückzuführen und wird heute als Tradition weitergepflegt, als eine Art Huldigung an die Nachfahren der ehemaligen Vögte.

Doch andrerseits sind die Schweizerinnen und Schweizer sehr findig, wenn es darum geht, die Nüchternheit der hiesigen politischen Rituale anderswo zu kompensieren: Fast nirgendwo auf der Welt ist das Vereinswesen so ausgeprägt wie in der Schweiz mit ihren Zehntausenden von Vereinen, wo die Mitglieder ihr Bedürfnis nach Ritualen und Symbolik mit Kränzen, Medaillen, Pokalen, Fahnen und sonstigen Trophäen, Umzügen und Trachten kompensieren können.

3. Rituale der schweizerischen Demokratie

3.1. Wahlen

Wahlen stellen sicher, dass die Demokratie eine Demokratie bleibt. Am augenfälligsten ist das bei so genannten "Stillen Wahlen" zum Beispiel in Bezirksschulpflegen oder Bezirksanwaltschaften, wo gedruckte Listen vorliegen.Auch ohne diese Wahlen würde zwar alles weiter funktionieren; aber der demokratische Gedanke wird gestärkt. Dasselbe geschieht auch bei der Wahl des Bundespräsidenten, wo das Resultat jeweils zum Vornherein feststeht. Auch mit diesem Ritual wird der Demokratiegedanke gefestigt.

  • Der gemeinsame Gang an die Urne ist ein zentrales Ritual einer Demokratie: Schweizer Bürger – und einiges später Bürgerinnen - konnten am Sonntag Morgen vor dem ganzen Dorf oder Quartier stolz ihre Staatsbürgerpflicht demonstrieren. Heute verliert dieses Ritual an Bedeutung. Es wird nüchtern brieflich abgestimmt. Ich vermag mich an die Diskussion bei der Einführung erinnern. Sie erinnert mich stark an die heutige Diskussion um die Schliessung von Poststellen: Die Symbolik des gemeinsamen Ganges an die Urne verschwinde; eine Anonymisierung der Gesellschaft trete ein, wird gesagt. Damals wie heute wurden Inhalt und Ritual verwechselt. Der Gang an die Urne ist das Ritual. Die Teilnahme an der Abstimmung ist der Inhalt. Im Postbüro Schlange zu stehen, ist das Ritual. Briefe und Pakete aufzugeben und abzuholen (vielleicht nicht im Postbüro, dafür zu Hause oder in einem Bahnhof), ist der Inhalt, nämlich die Grundversorgung.
  • Trauern wir den geliebten Formen nicht nach, denn für sie finden sich ja auch neue Inhalte. Der gemeinsame Gang an die Urne wird heute ersetzt durch den gemeinsamen Gang zur Altflaschen-Sammelstelle - auch eine staatsbürgerliche Pflicht! - wo wir uns gegenseitig die Weine zeigen können, die wir getrunken haben. Im Gegensatz zum Stimmlokal, wo die Meinungen schon gemacht und auf dem Stimmzettel fixiert sind, findet bei den Altflaschen sogar noch ein Lernprozess und eine Meinungsbildung statt, etwa wenn wir über die durchaus grundsätzliche Frage diskutieren, ob eine blaue Flasche zu den Grünen oder den Braunen gehöre.

3.2. Abstimmungen

Nach Abstimmungswochenenden findet eine Medienkonferenz statt. Erst wenn die Resultate aller Kantone vorliegen und auch wenn das Endergebnis längst bekannt ist, tritt - eine Hommage an die Stimmenzähler - der zuständige Bundesrat vor die versammelten Medien und kommentiert den Abstimmungsausgang. Dies ist meist eine Reverenz ans Initiativ- oder Referendumsrecht. Denn oft gibt es eigentlich nicht sehr viel zu sagen, weil das Resultat schon vor der Abstimmung klar war, wie etwa bei der Tempo 30 Initiative.

3.3. Viersprachigkeit

An nationalen Anlässen ist es Brauch, in allen vier Landessprachen zu sprechen, selbst wenn dies grösste Mühe bereitet und die vierte Sprache nur deshalb als rätoromanisch erahnt wird, weil sie, so wie sie von den Unkundigen artikuliert wird, niemand verstehen kann. Es soll durch dieses Ritual immer wieder unterstrichen werden, dass diese Willensnation Schweiz ständig gepflegt wird, und dass wir allen sprachlichen Minderheiten die Ehre erweisen.

3.4. Kohäsion

Der politische Inhalt (nämlich, dass alle grossen politischen Parteien, alle Regionen und Sprachgruppen in der Regierung vertreten sind), wird durch viele Rituale unterstrichen:

  • Der rotierende Bundespräsident
  • Die jährliche Wahlfeier in seinem Herkunftskanton
  • Die gemeinsame Schulreise des gesamten Bundesrates ebenfalls in die Herkunftsregion des Bundespräsidenten. Das ermöglicht der Gruppe, aus der er stammt, sich mit der Landesregierung zu identifizieren.
  • Darum ist auch das mediale Ritual um die Zauberformel so wichtig. Es beginnt mit der Rücktrittsankündigung eines Bundesrates und führt unweigerlich zu Forderungen wie: “SP aus dem Bundesrat!” oder “SVP aus dem Bundesrat!” oder “Ein Sitz weniger für die Romandie!” oder zur Frage: “Erträgt die Schweiz zwei Zürcher?” Nachgeliefert werden Sprengkandidaturen, später Interviews mit PolitologInnen, die erklären, warum eine Mitte-Links bzw. eine Mitte-Rechts-Regierung für das Land besser wäre bzw. warum die heutige Zusammensetzung, die alle relevanten Kräfte einbindet, unentbehrlich ist. Sinn und Zweck des Rituals: Am Tag der Wahl des neuen Bundesrats weiss das ganze politisch interessierte Land, warum die Schweiz die Konkordanz braucht und dass wir in der Landesregierung weiterhin alle wesentlichen (referendumsfähigen) Kräfte einbinden wollen.

3.5. Der Röstigraben

Noch ein Demokratie-Ritual, das Röstigraben-Ritual. Eine Debatte über die “drohende Spaltung der Schweiz” findet nach praktisch jedem eidgenössischen Abstimmungssonntag statt und endet jeweils in der Beteuerung, bei den nächsten wichtigen Vorlagen die unterschiedliche Empfindlichkeit der unterlegenen Minderheit in die Überlegungen mit einzubeziehen.

3.6.Die Kollegialität

Wir sprechen uns im Bundesrat in den offiziellen Sitzungen per Sie oder gar mit Herr Präsident, Herr Finanzminister etc an. Wir wollen damit hervorstreichen, dass politische Differenzen nicht persönlich zu nehmen sind, sondern eine Folge unserer Funktion. Wenn der Finanzminister zum Sparen mahnt, ist er nicht ein schlechter Kollege, der den anderen dreinreden will. Er nimmt vielmehr seine Rolle wahr: Er muss von Amtes wegen sparen. In der Pause sind wir dann alle wieder per Du.

3.7.Unterschiedliche politische Kulturen und Rituale

  • Die Romandie und die deutschsprachige Schweiz haben unterschiedliche Auffassungen über die Aufgabe des Staates. In der Debatte über die Liberalisierung der Bundesbetriebe bekomme ich dies deutlich zu spüren. Die Romandie baut, wie Frankreich übrigens auch, auf einen starken Staat, während sich die deutschsprachige Schweiz eher der Eigenverantwortung und auch den Kräften des Marktes anvertraut - wie Deutschland und England übrigens auch. Diese unterschiedliche Haltung äussert sich auch in den Ritualen:
  • Fahre ich nach Genf oder Neuenburg, wartet an der Kantonsgrenze eine Polizeieskorte, die meinen Wagen leitet und diesen über Rotlichter und Gegenfahrbahnen in rasendem Tempo zum Bestimmungsort führt – und dies alles unter offensichtlicher Zustimmung der Fussgänger, auch wenn diese mitunter nur knapp dem Tod entrinnen.
  • Ganz anders in der Deutschschweiz: Eine Mercedeskolonne kann noch so langsam durch Bern oder Zürich fahren, sie wird sie mit Sicherheit unterbrochen: von einem Birkenstocksandalenträger mit vorwurfsvollem Blick, der so seinen Fussgängervortritt und damit die Demokratie als solche in Erinnerung ruft.
  • Ein anderer kultureller Unterschied manifestiert sich im Ritual des Essens. Zwar wird auch in der deutschsprachigen Schweiz viel gegessen und ich kann mich sehr gut an die Rituale der Zürcher Regierung erinnern, wo bei den Mittagessen zuerst Weiss- dann Rotwein kredenzt wurde. Da aber mittags keiner von uns Alkohol trinken mochte, blieb es beim gegenseitigen Zuprosten und die Gläser blieben voll: Das Ritual blieb gewahrt und die Interessen des Wirtes ebenfalls.
  • In der Romandie spielt das Essen hingegen eine gewichtige Rolle. Schon nur der Versuch, eine Einladung zu einem Essen abzuwimmeln, wird dort gar nicht gnädig aufgenommen. Während in der deutschsprachigen Schweiz Arbeitslunchs mit Sandwichs gang und gäbe sind, wird die soziale Geselligkeit in der Romandie oder der italienischsprachigen Schweiz viel ausführlicher zelebriert und ritualisiert.

4. Rituale zwischenstaatlicher Beziehungen

Unflexibler als die innerstaatlichen Rituale unserer Demokratie empfinde ich diejenigen, die im Verkehr zwischen den Staaten gepflegt werden. Das mag wohl einerseits daran liegen, dass verschiedene Kulturen, Staatsformen und Sprachen ganz besonders darauf angewiesen sind, keine Missverständnisse über die gegenseitige Hochachtung aufkommen zu lassen, weswegen sich international gültige Rituale etabliert haben und kaum verändert werden. Die Unbeweglichkeit liegt wohl auch daran, dass die Sittenwächter, “das Protokoll”, sich professionell nur gerade den Ritualen als solchen widmen, ohne deren Hintergründe zu erfragen, so dass gelegentlich gespottet wird, es gehe nur darum, die eigene Berufsgattung am Leben zu halten.

  • Offiziell erfolgt ein Briefwechsel zwischen Ministern heute immer noch durch den Botschafter. In Wirklichkeit telefonieren, faxen oder mailen sich die Minister heute direkt. Meist mit einer Verspätung von etwa 10 Tagen überbringt dann auch noch der Botschafter – feierlich und mit telefonischer Vorankündigung - den schon längst beantworteten und in den Medien ausführlich kommentierten Brief und schreibt über die Übergabezeremonie einen Rapport, der an zahlreiche Adressen verfaxt wird.
  • Minister, als Vertreter ihres Volkes, begrüssen sich mit den gebührenden und richtigen Titeln, obwohl sie alle Duzis miteinander sind. Ich erinnere mich an die Vorbereitung eines Anlasses in Genua: Zusammen mit dem italienischen Verkehrsminister hatte ich den Kontrollturm im Hafen einzuweihen. Der Schweizer Botschafter in Rom faxte mir– in ständiger Angst, ich mache alles falsch – noch eine genaue Anweisung in den VIP-Salon des Flughafens – “Eilt! Dringlich!” - wie der Onorevole korrekt zu begrüssen sei. Während ich das Papier studiere, klopft mir einer von hinten auf die Schultern: Ciao, come va! Es war der Verkehrsminister von Italien in einer Windjacke.

5. Tradition und Erneuerung

Die beiden Episoden zeigen, wie Rituale sich verfestigen und perpetuieren, während die Inhalte sich schon längst gewandelt haben. Doch auch neue Inhalte wollen ihre Rituale, auch sie wollen emotionale Verankerung, auch sie brauchen ihre Symbolik. Rituale werden also auch immer wieder verändert oder neue werden geschaffen. Das ist nicht immer so einfach.

5.1. Zwischenstaatliche Rituale

Da gibt es die schiere Unmöglichkeit, gerade solche zwischenstaatlichen Rituale abzuschaffen! Jeder Staatspräsident ist vom “Protokoll” umgeben, eine Art Korsett, das bis ins letzte Detail die internationalen Kontakte regelt, die der Bundespräsident pflegt und das nicht politisch sondern rein formell, traditionell denkt. In der Bundesverwaltung gibt es dafür sogar eine Art Zeremonienmeister, eine speziell ausgebildete diplomatische Person, die mich immer instruieren muss, auf dass ich nichts Falsches mache, was ihr leider nicht immer gelingt.

Anderen Staatsoberhäuptern geht es da nicht besser. Der tschechische Staatspräsident Vaclav Havel hat sich in einem Interview einmal bitter über die protokollarische Strenge beklagt, die ihn dazu zwinge, “unnormal zu leben”. Er halte das Protokoll nur deshalb aus, weil er vom Internat, vom Militär und vom Gefängnis her “trainiert” sei. (Ich selber brachte keine dieser Voraussetzungen mit in mein Amt.)

In einigen Monaten werde ich Vaclav Havel empfangen. Zu einem Staatsbesuch gehören die militärischen Ehren. Ich liess Vaclav Havel fragen, ob er sich eine Alternative vorstellen könne. Er liess mir ausrichten: Ja. Nun habe ich ein Problem.

  • Militärische Ehren gibt es seit ein paar Tausend Jahren, sie haben schon im Römischen Reich stattgefunden, und sie laufen heute überall auf der Welt – mit kleineren Variationen - nach genau demselben Ritual und einer detaillierten Choreographie ab. Jedes Jahr nach dem gleichen Muster, auch in Bern auf dem Bundesplatz: Zuerst werden die beiden Nationalhymnen gespielt. Der Staatsgast - an seiner Rechten der Bundespräsident, zwei Meter schräg links hinten ein Dreisternegeneral – wartet das Anmelden des militärischen Grusses des Kompaniekommandanten ab, dann bewegt sich die Formation auf dem roten Teppich zu den Soldaten. Diese stecken alle im Tarnanzug, stehen stramm und haben einen Helm an. Vor zwei Jahren wurde anstelle des Helms das Béret eingeführt; aber Protokollexperten haben daran gar keine Freude, denn so sehe man, dass die Köpfe der Soldaten unterschiedlich gross seien und die Haarfarbe variiere. Dies störe die Einheitlichkeit des Bildes empfindlich, sagen sie.

So suche ich denn nach neuen Formen. Vaclav Havel wäre einverstanden. Aber das ist gar nicht so einfach. Ich wurde mit vielen Ideen beglückt: Männerchöre, Frauenchöre, Kinderchöre, die beiden Nationalhymnen, die in Beethovens Neunte, also die Europahymne, überflösse (nicht die EU-Hymne, wie ich vorsorglicherweise und leserbriefverhindernd festhalten will) - und so weiter. Die ideale Lösung habe ich noch nicht gefunden. Sie sind alle herzlich eingeladen, mir Ideen zukommen zu lassen.

5.2. Neue Rituale

Neue politische Inhalte wollen auch neue Rituale, damit sie emotional verankert sind und Unterstützung durch Symbolik erhalten.

Neue Rituale werden zum Teil dadurch geschaffen, dass ein einmaliger symbolischer Akt eine derartige Bedeutung erhält, dass er von anderen repetiert wird.

  • J.F. Kennedy gab nach 100 Tagen Regierungstätigkeit eine Medienkonferenz, um seine erneuernde Effizienz unter Beweis zu stellen. Dies ist zu einem Ritual geworden. Kein Gemeinderat kommt heute mehr um dieses 100-Tage-Ritual herum.
  • Willy Brandt hat sich in Polen - offenbar spontan - auf die Knie geworfen, und tat so symbolisch Busse für sein Land. Eine Geste, die heute immer wieder kopiert wird, und so zum Ritual geworden ist.
  • Es ist, um in bescheidenere Gefilde abzusteigen, ein Ritual, dass der Bundespräsident den Automobilsalon besucht, ein Ritual, das zu hinterfragen wäre. Andere Veranstalter ringen um dasselbe Ritual, das Albisgüetli zum Beispiel, oder das Forum Crans Montana: beide möchten, dass der Bundespräsident jährlich zu ihnen kommt.
  • Im Zug der Globalisierung hat sich in den letzten Jahren ein neues Ritual zu etablieren begonnen, bei dem sich übrigens auch die Grenzen zwischen Politik und Kirche vermischen: Nach dem Absturz der SR 111 vor Halifax haben zeitgleich in New York, in Zürich und in Genf Trauerfeierlichkeiten für die Angehörigen stattgefunden. Es haben Politiker geredet, es sind aber auch religiöse Elemente – eine Kerze für jeden Gestorbenen, besinnliche Musik – eingesetzt worden, wobei den vielen verschiedenen Religionen der Angehörigen Rechnung getragen wurde.

6. Das Primat gehört der Politik

Jede Politik hat ihre Rituale. Die Rituale leben von Symbolik und sprechen zunächst das Herz an, erst danach den Verstand. Die Politik lebt vom Verstand und vom Herz.

Politik, die sich einzig und allein auf die Ratio berief, hat auch die Guillotine und Verbrechen gegen die Menschlichkeit legitimiert. Politik, die einzig aus dem Bauch heraus betrieben wird, kann zur Demagogie und Beliebigkeit verkommen.

Die Kunst der Politik besteht aus der ausgewogenen Mischung der beiden Elemente, wie die Kunst der Küche, die mit Säure und Base, Öl und Essig, Rahm und Zitronensaft umgehen können muss. Wie Nähe und Distanz beim Lösen eines Problems, wie Ruhe und Training beim Sport.

Die Symbolik und somit auch das Ritual ersetzen aber die Emotionalität der Politik selber nicht. Diese muss der Politik selber inhärent sein. Die Rituale und ihre Symbole unterstreichen bloss einen politischen Inhalt, sprechen dabei vorwiegend dessen emotionalen Teil an.

Es besteht die Gefahr, dass das Ritual sich verfestigt und somit die Politik inhaltlich prägt, statt sie nur zu unterstreichen. Auf diese Weise zementiert das Ritual eine Politik, die möglicherweise längst überholt ist. So wenig also eine Wechselwirkung von Ritual und Politik weg zu diskutieren ist, so wenig darf sich die Politik dem Ritual unterwerfen.

Aus der Architektur kennen wir die These “form follows function”: Die Form dient der Funktion. Diese These wurde in Frage gestellt. Es gebe noch andere Inhalte als die blosse Funktion, und in Tat und Wahrheit beeinflusse die Form auch den Inhalt. Das trifft gewiss zu, und die Debatte könnte ohne weiteres auf die Politik übertragen werden. Ein Ergebnis steht für mich fest: Das Ritual hat dem Inhalt zu dienen und nie der Inhalt dem Ritual!

Und so schliesse ich mit einem Klassiker der politischen Rituale, einem Ritual, das Cato begründete, nämlich mit einem “ceterum censeo”. Was ich bei Diskussionen über das Verhältnis von Wirtschaft und Politik stets wiederhole, gilt auch im Verhältnis der Politik zum Ritual:

Das Primat gehört der Politik!