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Den Schwachen achten macht den Starken stark


26.08. - Ansprache am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest 2001 in Nyon

Ich bin nicht der einzige Bundespräsident, der auf den Schwingerkönig etwas neidisch ist. Wir Bundespräsidenten müssen nämlich unser Amt schon nach einem einzigen Jahr abgeben, während Ihr König drei Jahre lang thronen darf und sogar noch weitere Amtszeiten erschwingen kann.

Während diesen drei Jahren steigt er gerne und freiwillig in die Arena, wir aber werden in die "Arena" zitiert. Und wenn wir nicht selber gehen, müssen wir sie anschauen, das ist manchmal fast noch schlimmer. Und wenn wir dort sind, putzt kein Gegner das Sägemehl an uns ab, höchstens noch seine Schuhe.

Dass Sie sich das Sägemehl vom Rücken klopfen, ist eine Tradition, die mehr darstellt als eine Handbewegung. Sie ist ein urschweizerisches Symbol dafür, wie in diesem Land Gegner miteinander umgehen: Wie Sportle eben und nicht wie Feinde.

Doch in der Politik, in der Geschäftswelt, aber auch im Sport gibt es da leider Ausnahmen.
Eine solche Ausnahme war die Entwendung des Unspunnensteins, eines Symbols dieses Festes, ein Symbol, das Ihnen verändert zurückgegeben wurde. Das war nicht sportlich! Ich sage das hier mit Überzeugung, und ich habe es auch mit Überzeugung vor der Militärgesetz-Abstimmung gesagt, und ich habe es am 1. August wiederholt:

Unser Land hat eine Tradition des fairen Umganges, und den muss man einigen Politikern, Werbebüros und Unternehmen wieder in Erinnerung rufen und ihnen sagen: Geht doch einmal an ein Schwingfest und erlebt, was Fairness ist. Lest zum Beispiel das technische Regulativ.

Ich gebe zu, ich habe dieses Regulativ auch erst auf den heutigen Tag gelesen. Aber es hat mich beeindruckt mit seinen Vorschriften zur gegenseitigen Achtung, dem Verbot roher und gefährlicher Griffe. Hätte ich es früher gekannt, hätte ich es als Präambel für die neue Bundesverfassung vorgeschlagen.

Ich sage das alles nicht nur wegen all dem Sägemehl auf meinen Schultern, dem Sägemehl der Staus und der Flugverträge, von dem ich manchmal gerne hätte, es putze es mir jemand weg; ich sage es auch, weil ich in Ihren Statuten und Reglementen gesehen habe: Stärke heisst für Sie nie Rücksichtslosigkeit, Stärke gründet nicht auf Tricks oder Egoismus, sondern auf der Achtung des Schwächeren. Das ist eine Grundeinstellung. Da braucht es gar keine so detaillierten Regeln. Es genügt der Grundsatz. Und an den hält man sich.

Den Schwachen achten, macht den Starken stark. Das gilt überall, auch in der Politik. Sie ist für alle da, auch für die künftigen Generationen, auch für die Schwächeren, auch für die Minderheiten.

Ich sage das deshalb, weil unser Land praktisch nur aus Minderheiten besteht. Das betrifft die Sprachen, die Regionen, die politischen Ansichten, auch die Lebensauffassungen, die verschieden sind auf dem Land und in der Stadt.

Wir sprechen sehr viel über Gräben in diesem Land, über den Röstigraben, den Bratwurstgraben. Am meisten beschäftigt mich der Graben zwischen Stadt und Land.
Bei fast allen Abstimmungen stehen sich zwei verschiedene Weltanschauungen gegenüber: Die Schweiz, die sich verändert, und die Schweiz, die so bleiben will, wie sie war. Es war aber schon immer die Stärke der Schweiz, dass sich diese beiden Kräfte auch stets finden konnten. Wir müssen diese Gegensätzlichkeiten überwinden, und wir können es.

Nur wer sich der Wurzeln und Traditionen dieses Landes bewusst ist und sie achtet, kann die Schweiz verändern. Und nur wer sie auf die neuen Herausforderungen hin verändert, kann den Inhalt der Traditionen bewahren, nämlich eine Schweiz der vielen Kulturen, die stark, neutral aber engagiert ihren Platz in der Welt einnimmt.

Wichtig ist, dass Stadt und Land sich gegenseitig respektieren und die Begegnung suchen - und einfach das tun, was bei Ihnen längst Brauch ist: In Ihren Schwingclubs mischen sich die einst ausschliesslich städtischen Turnerschwinger und die ursprünglich ländlichen Sennenschwinger. Ob Turner oder Senn: Sie stehen im selben Ring. Das ist die Schweiz.
Ich kann mich erinnern, wie im städtischen Theater in Zürich, in welchem oft Kritisches über unsere Heimat gespielt wird, der Bergler Ogi und der Städter Leuenberger unter Anteilnahme der ganzen Bevölkerung sich die Stafette der Präsidentschaft übergeben haben.

Ein ähnliches Ereignis findet heute statt: Sie laden den Städter zu Ihrem Fest ein, und ich kann Ihnen sagen: Der Städter ist gerne gekommen. Ich freue mich, von Ihrer Sportlichkeit lernen zu dürfen. Schwingen werde ich wohl nicht mehr lernen, mein Sport ist Reden zu schwingen. Aber etwas habe ich schon gelernt: Der häufigste Schwung ist der "Kurz" . So will ich mich jetzt auch halten: Ein schönes Fest!