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«Wer die Fehler nicht will, will die Menschen nicht»


Interview von Max Dohner, Aargauer Zeitung, 16. Januar 2012

Vom Erkerfenster seines Büros ausfällt der Blick auf Limmat und Schipfenoch so, wie das Zürcher Bürgertum wohl einst Stunden der Musse genoss. Am Boden steht die Büste Ciceros, scheinbar zufällig: der Preis für eine Rede Moritz Leuenbergers.
Sein Büro aber hat der ehemalige Bundesrat nach seinem Geschmack modern funktional eingerichtet. Hier findet das Gespräch statt.

Herr Leuenberger, die politische Schweiz erlebte wegen der Affäre Hildebrand eine turbulente Jahreswende. Es hatte etwas Krampfartiges. Täuscht der Eindruck, dass sich solche Krämpfe häufen?

Moritz Leuenberger: In solchen «Krämpfen» spiegelt sich immer auch ein gesellschaftlicher Diskurs über Moral und Recht. Das ist ja nicht nur schlecht. Moralische Regeln sind im Fluss und auch neue Gesetze oder Reglemente werden verlangt.

Hier standen aber die moralischen Zeigefinger im Vordergrund.

Ich unterscheide drei Ebenen: Gotthelf dachte über eine Gesellschaft getragen von Nächstenliebe nach. Da braucht es keine Regeln, weil jeder Mensch dem anderen nur Liebe entgegenbringt. Ein Traum wie die Bergpredigt. Diesseits vom Traum braucht es Regeln, und das zweite Ideal wäre dann: Die Menschen halten sich an ungeschriebene Regeln, also an Moral. Das würde einen fairen, vertrauensvollen Umgang ermöglichen. Auch das klappt in der Realität nicht. Darum brauchts den Staat, der Gesetze erlässt und jene bestraft, die sich nicht dran halten.

Nun sei in der Causa Hildebrand Recht nicht verletzt worden; daran hält der zurückgetretene Nationalbank-Präsident bis heute fest.

Der Unterschied ist gar nicht so zentral. Selbst wenn Recht verletzt wird, muss nicht immer gleich rigoros durchgegriffen werden, mit Rücktritt usw. Eine Ermahnung könnte genügen, auch im Fall Hildebrand wäre das denkbar gewesen. Ich habe Beamte immer wieder geschützt, selbst wenn sie sich rechtswidrig verhalten hatten. Einer war Raymond Cron (der damalige Bazl-Chef war 2008 wegen unerlaubter Bonuszahlungen bei seinem früheren Arbeitgeber Batigroup verurteilt worden – die Red.). Wer Fehler nicht will, will die Menschen nicht. Kommt dazu, dass nicht jeder Rechtsbruch von gleicher Bedeutung ist. Eine Parkbusse ist etwas anderes als Fahren in angetrunkenem Zustand. Ich habe auch schon rechtswidrig gehandelt... 

...als Bundesrat?

Ja. Ich warf keinen Fünfziger in die Parksäule, als ich parkierte. Es gab ein öffentliches Juhee, und Leute forderten: «Treten Sie zurück!» Das stelle man neben die Causa Hildebrand, es zeigt sich so vielleicht, was ich meine: Die blosse Unterscheidung zwischen Recht und Moral taugt bei näherem Hinsehen nicht viel.

Nun war vor allem der moralische Rigorismus stark beim Fall Hildebrand. Man kann in der Sache vielleicht nicht hart genug urteilen. Aber es traten auch Tugendwächter auf den Plan, deren Suada fern an Robespierre erinnerte, den tugendhaften Schreckensherrscher. Weht da ein neuer Wind durchs Land?

Ja, wobei solcher Moralismus auch getrieben ist von Rachsucht und Kopfjägerei. So werden an Menschen im Rampenlicht ungleich höhere Anforderungen gestellt als an andere, und das verkommt mitunter zu Heuchelei. Umgekehrt gibt es dann wieder Idole, Hollywoodstars etwa, die bewundert werden, wie sie sich wie Götter ausserhalb moralischer Regeln alles erlauben können. Auf andere Leute aber werden äusserst prüde Massstäbe angelegt – wobei sich auch hier viel gewandelt hat: Der Pfarrer heute ist ein Mensch wie wir alle, er kann geschieden sein, seine Kinder dürfen die gleichen Problemen haben wie andere auch. Nur einige letzte glauben, sie verkörpern, weil sie Pfarrer sind, die Moral, der Bruder von B. beispielsweise.

Dass Dorfkönige Macht und Nimbus eingebüsst haben, ist das eine. Das andere, wenn Fachautoritäten wie Ärzte, Lehrer, Behörden zunehmend über «Kunden» klagen, die alles infrage stellen, so, als würde sie jeder über den Tisch ziehen.

Das Fachwissen der Spezialisten infrage zu stellen, finde ich richtig. Das tat ich auch, damit ich ihre Anträge in der Öffentlichkeit vertreten konnte, denn ich musste mich in den Diskussionen um Gesetze in den Abstimmungen den Stimmbürgern stellen. Da kamen Laien, die kritische Fragen stellten. Solche Auseinandersetzungen gehören in die Politik und zu einer Demokratie.

Zählt jeder Schmutzanwurf zur Demokratie?

Nein, die demokratische Diskussion kann anständig verlaufen. Doch da gibt es Tendenzen, die ich nicht goutieren kann, vor allem im Internet. Das war der Grund, weshalb ich meinen Blog eingestellt habe. Zunächst war er eine Plattform, auf der mir viele neue Perspektiven gezeigt wurden. Dann aber wurde direkt aus dem Dickdarm heraus kommentiert; das wurde mir schlicht zu widerlich.

Setzte Ihnen das früher nicht zu?

Doch – und da sind wir zurück bei Moral und Politik: Als ich 1995 mein Amt antrat, liess ich mein Büro durch meine Frau, eine Architektin, umbauen. Die Missgunst, die damals losbrach, führte dazu, dass ich den Umbau am Schluss selber bezahlte, obwohl es dazu keinen sachlichen Grund gab. Wer in der Öffentlichkeit steht, gerät mitunter in eine eigentliche Inquisition. Ohne Zorn und Eifer darüber zu reden, was öffentliche Exponenten dürfen und was nicht, war auch jetzt, beim Fall Hildebrand, nur noch beschränkt möglich.

Wieder spielte eine Frau eine Rolle.

Da kommt zum Teil ein sehr antiquiertes Rollenbild der Frau an die Oberfläche. Hätte Herr Hildebrand keine selbstständige Frau gehabt, hätte sich wohl manches anders abgespielt. Gerade erschien ein Buch, das den grossen Einfluss von Michelle Obama auf den amerikanischen Präsidenten feststellt. Und bereits versucht das Weisse Haus, dieses Bild wieder abzuschwächen. Wieso eigentlich? Da verrät sich die klassische Vorstellung, die Frau eines Politikers gehöre an den Herd oder solle sich mit Wohltätigkeit befassen.

Darf man von Mandatsträgern auf wichtigen Posten nicht erwarten, dass sie – per se – den Anstand mitbringen für ein solches Amt?

Gewiss, aber diese Erwartung habe ich an alle Leute. Deswegen müssten Leute in öffentlichen Ämtern bloss so integer sein wie alle andern.

Sie befürworten List in der Politik, die dürfe nie zur Arglist werden. Gibt es dazwischen klare Grenzen?

Politik bedeutet, Einfluss zu nehmen. Und dieser erfolgt nicht nur mit glasklarer Ratio, sondern immer auch mit spielerischer Verführung. Dazu gehört auch List, nie jedoch die Lüge, die etwas ganz anderes, Verwerfliches ist. Ich glaube schon, dass das eine Grenze darstellt.

Sie nannten das Vorhaben, weniger Strassentote herbeizuführen, nicht «Vision Zero», sondern «Via Secura». Oder die Reduktion von Schadstoffen im Verkehr später nicht mehr «CO2-Abgabe», sondern «Klimagesetz». Ist das nicht Beschönigung?

Das ist Kommunikation: Man geht auf die Gefühle der Adressaten zu. Suggestion spielt in der Politik eine zentrale Rolle. Es geht ja auch darum, die eigene Überzeugung umzusetzen. Hehre Visionen allein genügen nicht. Politiker wie Vaclav Havel oder Helmut Schmidt hatten einerseits Visionen und scheuten sich andererseits nicht, sich auch in die politische Realität zu begeben. Und zu dieser gehört die List als Taktik, nie aber die Lüge.

Christoph Blocher sagt, jeder lüge.

Natürlich wird gelogen, das weiss ich wohl. Die Politik kann indes ohne Lüge auskommen, davon bin ich überzeugt. Es gibt nicht den geringsten Anlass, die Lüge zu legitimieren. Das ist für mich eine ethische Anforderung an die Politik.

Was tut man, wenn der Gegner die Fähigkeit, auch im anderen ein Körnchen Wahrheit zu erkennen, nicht aufbringen kann?

Nicht immer kann mit dem politischen Gegner eine Lösung gefunden werden. Wo kein Kompromiss gefunden wird, muss abgestimmt werden. Dann kann man sich aber auch in der Minderheit wieder finden, obwohl man sich im Recht glaubt.

Ist Macht eine Droge?

Das beobachten wir oft. Aber das ist falsch verstandene Macht, denn Macht heisst Einfluss nehmen, um die Gesellschaft zu gestalten, und das geht auf rücksichtvolle Art und Weise, indem die Minderheit und ihre Anliegen aufgenommen werden.

Sind Sie froh, angesichts dessen, was um die Nationalbank ablief, dass Sie draussen stehen?

Die Erschütterungen um die Nationalbank waren tatsächlich der erste Fall, den ich vollkommen von aussen beobachten konnte. Natürlich dachte ich oft: Wie wäre ich da vorgegangen? Aber da muss ich aufpassen: Diese Rolle des Besserwissers will ich öffentlich nicht spielen. Mich weiterhin in die Politik einbringen – wohlan. Aber belehren, wie man es hätte besser machen sollen, will ich nicht.