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Wo steht die SP?


Interview in der NZZ vom 3. September 2013 anlässlich des 125 Jahre Jubiläums der SP

Dort erschienen unter dem Titel: „Reformen müssen angegangen werden“

 

Moritz Leuenberger, die Sozialdemokratie hat ihre Ziele erreicht. Es gibt keine entrechtete Arbeiterklasse mehr, der Wohlfahrtsstaat ist Realität und selbst politische Gegner übernehmen sozialistische Rezepte, wie etwa Bundeskanzlerin Merkel in Deutschland. Nach 125 Jahren könnte man die Parteibüros schliessen.

Ralf Dahrendorf hat das 20. Jahrhundert als das sozialdemokratische Jahrhundert bezeichnet, also als Erfolg. Es gibt in der Schweiz heute keine ausgebeutete und darbende Arbeiterklasse mehr. Die Arbeiter, Arbeitnehmer, Mieter sind zu Citoyens geworden, die Politik mitgestalten. In diesem Sinne sind sie Bürger im besten Sinn des Wortes geworden.

Hat folglich die SP ihre historische Rolle erfüllt?

Auf keinen Fall. Das soziale Element wird bei der Gestaltung des Staates und der Staatengemeinschaft immer eine zentrale Rolle spielen. Die Partei muss aber noch viel stärker in globalen Dimensionen denken. Die heutigen Herausforderungen betreffen weltweite Armut, Migration und Nachhaltigkeit und müssen global angegangen werden. Jene Kräfte sind glaubwürdig, die dazu Antworten bringen und eine gute Politik entwickeln.

Gut, aber bleiben wir noch einen Moment im Inland. Wie hat sich die SP seit 1968 verändert?

Die SP war vor 1968 in vielen Fragen konservativ. Wir sind damals in die SP eingetreten, um sie zu verändern, um sie demokratischer zu organisieren und neuen Ideen zu öffnen. Wir hatten zum Teil Mühe mit den Gewerkschaften, die wir als autoritär und konservativ empfanden. Die Bildungspolitik störte uns, denn sie begünstigte Akademikerkinder. Es ging uns auch darum, Diskriminierungen zu überwinden, sei es gegenüber Frauen, Geschiedenen, unehelichen Kindern oder Homosexuellen. Vor 40 Jahren gab es noch Schicksale, die heute niemand mehr glauben würde. In diesen letzten Jahren hat sich unglaublich viel verändert. Was damals noch Skandale auslöste, gehört heute gottseidank zur Normalität.

Wenn wir allerdings auf die heutige SP blicken, ist von einem solchen, auch liberalen Geist, wenig zu sehen.

Der liberale Geist soll sich nicht nur auf wirtschaftliche Fragen beschränken, sondern auch auf Bildung oder Toleranz gegenüber Fremden. Das ist eine Priorität der SP. Und es gab übrigens auch in der SP eine starke Bewegung für mehr Wettbewerb und Liberalisierung. Immerhin wurden Post, Telekommunikation und Strommarkt unter einem SP-Bundesrat liberalisiert. Wir waren der Überzeugung, dass diese Reformen im Endeffekt dem sozialen Zusammenhalt und dem flächendeckenden Service Public besser dienen. In diesen Fragen schwingt das Pendel in der SP gegenwärtig etwas zurück. Doch gibt es neue Felder, in denen die SP wiederum eine Pionierrolle übernehmen kann. Beispielsweise wird die Solidarität zwischen den Generationen neu geregelt werden müssen. Heute unterstützt ein immer kleinerer Teil von Aktiven einen immer grösseren Teil Rentner. Diese Reformen müssen angegangen werden.

Innovative Debatten finden heute aber nicht in der SP statt. Die Partei ist strukturkonservativ, blockt Reformen ab und macht auf Besitzstandswahrung.

Doch, doch, die Debatten gibt es auch in der SP. Besitzstandswahrer und Reformer diskutieren über die Zukunft der Sozialwerke. Entscheidend ist für mich die Solidarität mit künftigen Generationen. Die Verantwortung ihnen gegenüber erheischt eine nachhaltige Umgestaltung der Sozialwerke.

Noch einmal: Davon ist nichts zu sehen. Die SP wird derzeit getrieben von Jungsozialisten, die im 19. Jahrhundert verhaftet sind, Klassenkampf ist angesagt.

Solche verbale Radikalisierung sehe ich eher als Ringen um öffentliche Aufmerksamkeit. Die Regierungsarbeit der SP geht ja in eine andere Richtung und diese Verantwortung gehört ebenso zur Partei. Man muss die heutigen Wortführer zudem richtig verstehen: Systemwechsel meint ein neues Wertesystem, denn wir leben leider in einer Gesellschaft, in der ökonomische Werte einfach das ganze Leben beherrschen.

Immerhin will die SP den Kapitalismus überwinden.

Damit soll die Wertediskussion angestossen werden, nicht mehr und nicht weniger. Alle in der SP wissen, dass wir in einem kapitalistischen System agieren. Es geht darum, wie wir den Kapitalismus gestalten.

Die SP repräsentiert heute mehrheitlich einen gut gebildeten und auch gut besoldeten Mittelstand. Politisiert die SP-Rennleitung mit ihrer Klassenkampf-Rhetorik nicht an der Basis vorbei?

Ich bin zuversichtlich, dass auch in Zukunft die Reformkräfte die Partei prägen werden; sie sind noch immer stark, auch wenn sie heute nicht die Schlagzeilen bestimmen.

Leidet die SP nicht – wie andere Parteien auch – daran, dass sich potenziell gute Köpfe gar nicht mehr in der Partei engagieren wollen?

Seit 1968 hat sich diesbezüglich sehr viel verändert. Die politische Priorität ist einem moralischen, individualistischen Einsatz gewichen. Das muss nicht zwingend schlecht sein. So wollen sich viele Menschen unmittelbar engagieren und arbeiten deshalb bei einer NGO oder einem Hilfswerk und weniger in der Partei. Auch die FDP leidet ja darunter, dass sich ihr Humanpotenzial lieber in der Wirtschaft verwirklicht. Der SP steht im sozialen Bereich einer ähnlichen Entwicklung gegenüber.

Nach 125 Jahren ist die SP national bei einem Wähleranteil von nur noch 18,7 Prozent angelangt. Was muss die SP tun, damit sie wieder wächst?

Ein Parteipräsident muss sich auf solche Ziele ausrichten. Für mich ist aber Wählerwachstum nicht das primäre Ziel, sondern eine ethische und verantwortungsvolle Politik. Man muss sich für die eigenen Überzeugungen einsetzen, sogar wenn dadurch Verluste drohen. Geht diese Grundhaltung verloren, wird die Partei nur noch von PR-Leuten gesteuert, die den Meinungsumfragen hinterherrennen.

Sie haben nach 1968 den Gang durch die Institutionen gemacht. War es richtig?

Die SP will die Schweiz mitgestalten und dies ist nur möglich, wenn sie in der Regierung ist.

Ist es nicht wahnsinnig frustrierend, wenn man ständig überstimmt wird?

Ein radikaler Irrtum, den übrigens auch viele Sozialdemokraten pflegen! Die Vorstellung ist ideologisch und vollkommen falsch. Es geht in einer Regierung nicht nur um Arbeitgeber- und Arbeitnehmerfragen, wir haben auch andere Probleme. In den Regierungen beeinflusst man sich gegenseitig, abgestimmt wird selten. Und wenn, spielt die regionale Herkunft oft die wichtigere Rolle. Das entspricht ja auch der Idee Schweiz: Anliegen der Minderheiten sollen aufgenommen und der Kompromiss gesucht werden.

Das tönt nach Wischiwaschi. Alle meinen es gut und wollen im Prinzip das Gleiche?

Überhaupt nicht. Jeder bringt zunächst seine politische Überzeugung ein. Aber wir sind ja nicht unversöhnlich. Die SP und die FDP sind beide im liberalen Gedankengut verankert. Die Sozialdemokratie kreist schwergewichtig um die soziale Verpflichtung der Gemeinschaft, die Freisinnigen um Eigenverantwortung und wirtschaftliche Freiheit. Da finden sich Kompromisse.

In der politischen Praxis dominieren aber Regulierung, Umverteilung und Bevormundung durch den Staat!

Das stimmt doppelt nicht: Die politische Praxis der SP wird durch die Arbeit in den Regierungen und den Parlamentskommissionen geprägt. Dort kann keine Rede davon sein, dass die SP Vertreter regulatorischer wären als andere. Die Tendenzen zur Überregulierung sehe ich auch im Bauwesen, in der Landwirtschaft, in der Kinderbetreuung. Wieso dieser Trend aber auf die SP zurückzuführen sei, kann ich nicht begreifen. Dass keine Risiken mehr eingegangen werden, hat meist mit versicherungsrechtlichen Ängsten zu tun und einer unverständlichen Haftpflichtpraxis in den USA. Da verhalten sich die SP Vertreter oft liberaler als viele andere.

Bei den Sozialdemokraten sind aber nur noch die im Parteiprogramm erwähnten Grundwerte liberal. Alles andere ist Sozialismus, nicht?

Liberal und sozialistisch sind keine unversöhnlichen Gegensätze. Im Zuge von 1968 sind viele aus freisinnigem Hause der SP beigetreten in der Überzeugung, hier das ursprüngliche radikale, liberale Gedankengut besser verwirklichen zu können als im Freisinn, der nur noch der Wirtschaft dient. Dass die SP zuweilen an etatistische Lösungen glaubt, hat auch einen kulturellen Hintergrund: Die Idee vom «Vater Staat», der alles regeln soll, ist in Frankreich und der Romandie breit verankert, nicht nur in der SP. (ENDE)