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«Nehmen wir an, der Scheich von Katar sitzt im Gotthard-Stau fest»


Moritz Leuenberger bezeichnet die zweite Röhre am Gotthard als «verfassungswidrig». Was der Alt-
Verkehrsminister befürchtet.

Moritz Leuenberger über die zweite Gotthardröhre

«Niemand kennt die Prioritäten kommender Generationen»: Alt-Verkehrsminister Moritz Leuenberger. Foto: Urs Jaudas

Als langjähriger Verkehrsminister kennen Sie die verkehrspolitischen Sensibilitäten der Schweizer. Sollen wir am 28. Februar auf ein Ja des Volks zur zweiten Gotthardröhre wetten?
Jede Prognose vor einer Abstimmung trägt ihrerseits selber zur Meinungsmache bei. Ich möchte nicht zu solchen Mitteln greifen, sondern auf die Vergangenheit verweisen. Der Gegenvorschlag zur Avanti-Initiative, über den wir 2004 abstimmten, scheiterte vor allem aus einem Grund: weil das Parlament die zweite Gotthardröhre als Option in die Vorlage packte.

Die Avanti-Vorlage sah aber einen Vierspurenbetrieb am Gotthard vor. Diesmal schreiben wir ins Gesetz, dass nur zwei Spuren betrieben werden dürfen.
Der Fall ist doch klar: Der Alpenschutzartikel in der Verfassung verbietet es, die Verkehrskapazität am Gotthard zu erweitern. Doch die Vorlage, über die wir im Februar abstimmen, brächte eine solche Kapazitätserweiterung – auch wenn jetzt behauptet wird, man wolle sie nicht nutzen. Verstehen Sie mich richtig: Es ist legitim, die Verkehrspolitik neu auszurichten und eine zweite Röhre zu fordern. Aber man muss dazu die Verfassung ändern. Ein neues Gesetz reicht nicht. Das ist
juristisch völlig eindeutig. Diese Vorlage ist verfassungswidrig.

Die Befürworter sagen, mit zwei einspurigen Röhren werde die Verfassung eingehalten. Die Kapazität bleibe unverändert.
Geplant sind jetzt aber zwei zweispurige Röhren, die man angeblich nur ein spurig betreiben will. Dabei glaubt kein Mensch, dass das eingehalten wird. Man stelle sich vor, spätere Politgenerationen würden beschliessen, vorübergehend alle vier Spuren zu nutzen, etwa bei langem Stau. Die Alpenschützer wären dann zu einem Referendum gezwungen. Und sogar dieser Weg wäre ihnen versperrt, wenn der Bundesrat die Öffnung per Verordnung beschliessen würde.


Umfrage

Glauben Sie dem aktuellen Bundesrat, wenn er sagt, es würden nie alle vier Spuren am Gotthard freigegeben?

Ja         14.3%

Nein     85.7%

6014 Stimmen (Stand: 6. Januar 2016)


 

Sie halten es für denkbar, dass der Bundesrat per Verordnung alle vier Spuren freigäbe?
Das könnte ich mir gut vorstellen. Nehmen wir mal an, es hat 20 Kilometer Stau, und der Scheich von Katar sitzt im hintersten Wagen. Und dann heisst es, der muss aus medizinischen Gründen so schnell wie möglich durch den Tunnel. Da ist die zweite Spur dann auf einmal schnell freigegeben.

Sie misstrauen also dem Bundesamt für Strassen und dem Bundesrat?
Ich unterschiebe niemandem etwas. Sicher meinen alle ehrlich, was sie sagen. Aber die zweite Röhre wird noch in Jahrzehnten bestehen. Niemand kennt die Prioritäten kommender Generationen. Genau dafür wäre doch die Verfassung gedacht: Sie müsste über politische Generationen hinweg Sicherheit schaffen.


Umfrage

Alt-Bundesrat Leuenberger widerspricht Verkehrsministerin Doris Leuthard. Darf er das?

Ja, klar. Wenn es seine Überzeugung ist, muss er sogar.          78.8%

Nein, alt-Bundesräte sollten sich nicht mehr einmischen.         21.2%

7342 Stimmen (Stand: 6. Januar 2016)



Apropos Sicherheit: Eine zweite Röhre kann Menschenleben retten, weil sie die Unfallgefahr am Gotthard senkt. Einverstanden?
Das habe ich schon während meiner Amtszeit gesagt. Doch kann man wegen der Sicherheit nicht einfach die Verfassung ausser Kraft setzen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich wollte die 0,5-Promille-Grenze mit einer Verordnungsänderung einführen. Ich hätte dafür also bloss die Zustimmung des Gesamtbundesrats benötigt. Doch es gab Proteste, nicht zuletzt von Juristen, die eine Änderung des Gesetzes für nötig hielten. Also brachte ich die 0,5-Promille-Grenze ins Parlament, wo sie dann nur ganz knapp eine Mehrheit fand. Der Weg war mühsamer, aber rechtsstaatlich nötig.

Der Alpenschutzartikel ist ja in der Tat unter Druck. Es gibt namhafte Kräfte in Bundesbern, welche die gesetzliche Obergrenze von 650'000 Lastwagen pro Jahr kippen wollen. Können Sie das verstehen? Sie wissen ja, wie viele Probleme die Verlagerung des Schwerverkehrs auf die Schiene bereitet.
Auch hier gilt: Solange der Alpenschutz in der Verfassung steht, muss die Politik bestrebt sein, sich dem Ziel von 650'000 Lastwagenfahrten pro Jahr zu nähern. Das Gesetz mit dieser Obergrenze stellt ja bereits eine Uminterpretation des harten Alpenschutzartikels dar. Ich stand 1995 als Bundesrat vor der Aufgabe, diesen Artikel umzusetzen, der mit bestehenden Mitteln nicht umzusetzen war. Wir haben das Gespräch mit den Initianten gesucht und uns geeinigt.

Der Konsens mit der Alpeninitiative ist nun aufgebrochen worden?
Nicht nur. Immerhin hat der Bundesrat jüngst die leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA) angehoben, um die Verkehrsverlagerung voranzubringen. Aber eine zweite Röhre widerspricht dem Alpenschutzartikel. Zwei Röhren, vier Spuren: Es wäre unter diesen Bedingungen nur schon illusorisch, die Zahl von heute rund einer Million Lastwagenfahrten pro Jahr zu halten.

Aber was sind die Alternativen? Der alte Gotthardtunnel muss renoviert werden – ohne zweite Röhre braucht es während der Sanierungszeit milliardenteure Verladestationen, damit der Verkehr auf die Schiene kann. Und nach der Sanierung wird alles wieder abgebrochen.
Zu den Kosten nur so viel: Für die zweite Röhre ist keine Sonderfinanzierung vorgesehen. Sie soll aus dem Strassentopf finanziert werden – genau wie all jene Projekte, welche die Verkehrsprobleme in den Agglomerationen lösen sollen. Um diese knappen Gelder wird es zu einer Auseinandersetzung kommen. Es kann ein böses Erwachen geben für all jene Menschen, die nicht nur an Ostern und Pfingsten im Stau stehen, sondern jeden Tag. Die Autofahrer in den Städten und
Agglomerationen haben ein vitales Interesse, keine solche Konkurrenz entstehen zu lassen.

Dafür könnten die Bewohner des Tessins ein vitales Interesse an der zweiten Röhre haben. Ohne sie droht der Kanton während der Sanierung vom Rest des Landes abgekoppelt zu werden.
Warum haben wir die Neat gebaut? Sie schafft eine attraktive Verbindung ins Tessin und zurück, gerade auch während der Sanierung des Strassentunnels. Nicht zuletzt mit diesem Argument wurde der Bau der Neat begründet. Von Abkopplung kann also keine Rede sein. Dazu würde auch nie jemand in der Schweiz Hand bieten.

Die Neat, bei der Sie als Bundesrat noch den Durchstich feierten, wird nächstes Jahr eröffnet. Was würde ein zweiter Gotthard-Strassentunnel für den Neat-Betrieb bedeuten?
Wir würden das Versprechen durchkreuzen, das wir in verschiedenen - Abstimmungen gegeben haben. Es wurden 13 Milliarden Franken – dieser Betrag war ursprünglich budgetiert – in die Basistunnels am Gotthard und am Ceneri investiert, damit die Lastwagen von der Strasse wegkommen. Vergessen wir auch nicht, dass wir nur dank der Neat mit der EU die LSVA aushandeln konnten.

Trotz alledem kommt die zweite Röhre in der neuesten Umfrage auf 63 Prozent Zustimmung. Verliert der Alpenschutz an Stellenwert?
Ja, die politische Einstellung hat sich in den letzten Jahren verändert. Das hat nicht nur Folgen für den Alpenschutz, sondern auch für den Solidaritätsgedanken – für die Idee der Nachhaltigkeit überhaupt. Die Verluste für die Grünen und die Grünliberalen bei den letzten Wahlen waren ein Symptom dieser Entwicklung. Wir beobachten die gleiche politische Verschiebung überall, auch in den USA, England und Polen. Deutschland ist die Ausnahme.

Der Gotthard ist noch immer ein Mythos, ein Stück Urschweiz. Wird das die Stimmbürger bei ihrem Entscheid beeinflussen?
Die Alpeninitiative hat 1994 bei Volk und Ständen aus verschiedenen Gründen eine Mehrheit gefunden; der Mythos Gotthard und der ihm innewohnende Romantizismus haben sicherlich ihren Teil dazu beigetragen. Ebenso wichtig war aber ein anderes Argument: Die Befürworter der Alpeninitiative wollten der EU das Leben erschweren. Die EU verlangte damals freie Durchfahrt für Lastwagen durch die Schweiz.

Auch jetzt warnen die Gegner der zweiten Röhre vor der EU, welche die Schweiz in eine «Transithölle» verwandeln wird. Diese Rhetorik kommt just von linken und grünen Befürwortern eines EU-Beitritts.
Das ist nichts Neues. Bereits bei der EWR-Abstimmung 1992 hatten rot-grüne Kräfte den Ausschlag für das knappe Nein gegeben. Der ganz linke Flügel der SP war ebenso gegen einen Beitritt zum EWR wie die Grünen – eine Tatsache, die heute gerne verdrängt wird.

Nach Ihrem Rücktritt 2010 wurde Doris Leuthard Verkehrsministerin – und die Idee einer zweiten Röhre erhielt schnell Auftrieb. Sehen Sie Ihr Vermächtnis bedroht?
Nein. Eine neue Kraft an der Spitze eines Departements bringt immer neuen politischen Wind; ich möchte das mit keinem Wort beklagen. Die Frage der zweiten Röhre wird nun anders beurteilt als zu meiner Amtszeit. Doch das ist ein Detail. Die grossen Linien werden weitergeführt, beispielsweise beim Dossier Energiestrategie.

Haben Sie mit Frau Leuthard über die zweite Röhre diskutiert?
Ja. Doch ich pflege den Inhalt solcher Gespräche nicht öffentlich auszubreiten.

Tages-Anzeiger
(Erstellt: 29.12.2015, 18:03 Uhr)


Moritz Leuenberger

Verkehrsminister während 15 Jahren

Drei Jahrzehnte lang machte der Zürcher Moritz Leuenberger (69) für die Sozialdemokraten Politik im Bundeshaus – von 1979 bis 1995 als Nationalrat, danach bis 2010 als Bundesrat. In der Landesregierung stand er dem Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) vor. (fre)

Die Verkehrsvorlage, über die das Volk am 28. Februar abstimmt, trägt den Titel «Sanierung des Gotthard-Strassentunnels». Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht aber nicht die Sanierung, sondern der in der Gesetzesvorlage enthaltene Bau einer zweiten Autoröhre am Gotthard. Mit diesem Projekt wollen der Bundesrat und die bürgerliche Parlamentsmehrheit sicherstellen, dass die Verkehrsflüsse zwischen Süd und Nord während der Sanierungszeit gewährleistet sind. Nach der Renovation des alten Tunnels sollen beide Röhren nur noch einspurig betrieben werden.

Die zentrale Streitfrage im Abstimmungskampf betrifft Artikel 84 der Bundesverfassung. Dieser wurde 1994 in der sogenannten Alpeninitiative vom Volk angenommen. «Der alpenquerende Gütertransitverkehr von Grenze zu Grenze erfolgt auf der Schiene», heisst es darin, und weiter: «Die Transit strassen- - Kapazität im Alpengebiet darf nicht erhöht werden.» Da ein rigoroses Lastwagenverbot nicht umzusetzen war, beschloss der Gesetzgeber später, die Zahl der jährlichen Fahrten sukzessive auf 650 000 zu senken; das Ziel ist noch nicht erreicht. Die Gegner der zweiten Röhre sehen nun mit der Abstimmungsvorlage vom 28. Februar das Verbot der Kapazitätserweiterung verletzt. (fre)